Abschrift: Xxxxx


Ich beschloss, als Antwort auf Ihren Aufruf einen Teil meiner Erlebnisse aus der Zeit der Zwangsarbeit in Berlin (vom September 1941 bis zum Januar 1944), die in meinem Gedächtnis geblieben sind, zu schildern. Zunächst meine persönlichen Daten:

Xxxxx
geboren am 17. September 1926 in Łódź,
xxxxx
Staatsbürgerschaft: polnisch,
Konfession: römisch-katholisch,
soziale Herkunft: Arbeiterfamilie,
Familienstand: verwitwet (seit 1975),
mittlere allgemeine Ausbildung,
wohnhaft: 91- 002, Drewnowska 16/ 2, Tel.: 540344

Am Beginn meiner Erinnerungen aus den Jahren 1939- 1945 möchte ich zunächst meine nächste Familie vorstellen, die ich 1939 hatte: Mutter (36 Jahre alt), Großmutter (56 Jahre alt), Bruder (14 Jahre alt). Mein Vater starb 1937. Solange mein Vater lebte, war unsere materielle Lage sehr gut. Er war Meister in der Bettdecken-Fabrik in Łódź. Meine Mutter arbeitete als Weberin in den Scheibler-Baumwollbetrieben in Łódź, wo auch meine Großmutter arbeitete. Die Oma wohnte im Haus ihrer Schwester. Bis 1939 musste ich nichts entbehren, sowohl was die Ernährung als auch die Kleidung betraf.

1939 schloss ich die sechste Klasse der Grundschule ab, mein Bruder xxxxx (xxxxx - die zweite Klasse des Handelsgymnasiums in Łódź. Wir wohnten in Łódź, in einem privaten, vierstöckigen Wohnhaus, in dem etwa 30 Familien wohnten, darunter etwa 20 in meinem Alter. Diese Daten gebe ich absichtlich an, weil 1939, nach dem Einmarsch der deutschen Armee in Łódź, das Problem der polnischen Jugend, die ohne Schule und Arbeit blieb, unerwartet schnell gelöst wurde. Bis heute denke ich oft darüber nach, wie effizient der Verwaltungsapparat war. Man wandte keine Hochtechnik wie heute an, da sie damals nicht vorhanden war, und die Beschaffung der Beschäftigung für viele Tausende von Personen verlief verblüffend schnell und widerstandslos. Nahm der Betroffene die Arbeit zu dem festgelegten Termin nicht auf, so drohte ihm das Gefängnis, wovor jeder junge Mensch Angst hatte.

Mein Bruder wurde im Januar 1940 zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt. Er wurde in einem großen Gutshof in der Ortschaft Freistatt bei Hannover beschäftigt. Die Ausreise des Bruders war ein psychischer Schock für meine Mutter und Großmutter, was die Gesundheit der beiden beeinträchtigte.

Ich bekam vom Arbeitsamt die Arbeitszuweisung als Haushaltshilfe bei einer dreiköpfigen deutschen Familie, die 1939 die Volksliste annahm. Mein Arbeitgeber war deutscher Herkunft, seine Frau war Polin. Zu Hause sprach man Polnisch. Sie hatten eine Tochter im Alter von 12 Jahren, die auf die Schule ging. Mit dieser schweren Zeit bei ihnen begann mein erwachsenes Leben. Die Arbeit war sehr schwer, über meine Kräfte. Dazu kam die Demütigung, die nicht nur meine Person betraf, sondern auch Polen und die Polen überhaupt. Obgleich ich zwei Straßen weiter wohnte, durfte ich meine Mutter und Oma nicht sehen. Mir war es erlaubt, einmal in der Woche für zwei Stunden nach Hause zu gehen. Ich arbeitete von 5 Uhr morgens bis 22 Uhr. Für die Arbeit bekam ich keine Entlohnung, nur die Verpflegung, und dies auch nur im beschränkten Maß. Ich war nirgendwo registriert oder versichert, was ich erst nach dem Krieg erfuhr.

Weinend kam ich nach Hause. Ich sagte, ich würde lieber ins Gefängnis gehen, als dort weiterzuarbeiten. Damals war ich mir dessen nicht bewusst, dass ich meiner Mutter Kummer und Schmerz bereitete. Es gab keine Möglichkeit, sich von diesen Menschen zu befreien. Von dieser schweren Arbeit habe ich bis heute ein „Andenken“: Krampfadern an den Beinen und Gehschwierigkeiten.
Im September 1941 wurde in den Scheibler-Betrieben eine Liste von Personen zusammengestellt, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt werden sollten, darunter auch meine Mutter. Weil sie die Trennung von mir befürchtete, legte sie diese Angelegenheit der Fabrikleitung vor und bekam die Erlaubnis, mich mitzunehmen. Zu Hause blieb die Großmutter.

Man informierte uns darüber hinaus, dass wir nur für drei Monate zur Arbeit fahren. Ich war damals 15 und neugierig, die echten Deutschen zu sehen sowie die Welt jener Menschen, die im Begriff waren, Europa zu erobern, kennenzulernen.

Die Fahrt nach Berlin erfolgte in einem Personenzug, unter polizeilicher Bewachung. Es war eine große Zahl von Frauen. Wir wurden in Berlin-Wilhelmsruh beim Bergmann-Elektrowerk in der Lessingstraße beschäftigt, und in Berlin-Rosenthal haben wir gewohnt. Wir wurden vorläufig in einer riesengroßen Fabrikhalle untergebracht, in der man Etagenbetten und hohe Schränke nebeneinander hingestellt hatte. Das Stimmengewirr der Gespräche von den dort untergebrachten Frauen war so laut, dass es manchmal schwer war, sich gegenseitig zu verstehen. Auch nicht einfach war es, dort ein Plätzchen zu finden, wo man sich hätte waschen oder Unterwäsche wechseln können. Für manche Personen (besonders die älteren) waren es schockierende Bedingungen.

Ich erinnere mich an zwei ältere Damen (Schwestern), die sich Mühe gaben, stets in der Nähe von meiner Mutter und mir zu bleiben, denn wir beide wussten uns besser zu helfen. Sie waren auf ein solches Leben nicht vorbereitet und fühlten sich hilflos. Im Zentrum von Łódź besaßen sie ein Haus mit einer Haushaltshilfe und ein Geschäft mit Hüten, das 1939 beschlagnahmt wurde. Morgens standen sie eine Stunde früher auf, um sich zu waschen und anzuziehen. Meine Aufgabe war, ihre Korsetts zuzuschnüren, ohne die sie es nicht vermochten zu funktionieren. Sie waren im Alter von etwa 55 Jahren. Nach dem Krieg gehörte ich zu ihren Stammkundinnen. Sie kehrten viel früher als wir nach Łódź zurück.

Nach einiger Zeit versetzte man uns in die Baracken. In derselben Baracke wie wir wohnten Frauen aus Frankreich. Eine gesonderte Baracke gab es für die Russinnen, die sich oft versammelten, um zu singen und zu tanzen. Wir konnten ihre Auftritte bewundern, aber nur von weitem, hinter dem Zaun stehend, der ihre Baracke umfriedete. Die Russinnen verfügten über starke innerliche Freude und den Glauben, dass ihre Armee und der Genosse Stalin siegen würden.

Die Arbeit, die ich machte, war nicht schwer, aber anspruchsvoll, präzise und verantwortungsvoll. Ich hatte winzige Metallteile abzuschleifen. Man brauchte dazu gute Augen, präzise Sorgfalt und Schnelligkeit. Die Räume, in denen wir arbeiteten, waren sauber und gut beleuchtet. Unsere Arbeit bewachten deutsche Frauen, die uns zugleich alles beibrachten. Sie arbeiteten ebenso mit ihren Geräten. Sie lachten immer und sprachen viel zu uns. Sie waren an unserem Leben und Bedingungen interessiert. Sie stellten Fragen, wie es in Polen ist. Anfänglich hatte ich Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Bald begann ich aber, die einzelnen Worte zu erkennen, die ich wiederholte, was sie sehr freute. Später, als ich anfing, ganze Sätze zusammenzubauen, war ich mit mir sehr zufrieden.

Eines Tages, nach etwa zwei Monaten Arbeit, führten die deutschen Frauen während der Frühstückspause eine lebhafte Diskussion. Die polnischen Frauen saßen in ihrer Gruppe und beobachteten interessiert, wie die anderen gestikulierten. Auf einmal bat mich eine der deutschen Frauen, zu ihnen zu kommen. Ich war damals die jüngste in der Gruppe der Polinnen. Sie fragten mich, ob die Polinnen Schlüpfer tragen. Ich weiß noch, dass ich rot im Gesicht wurde. Ich erklärte, dass dies zutrifft, dass jede von uns Schlüpfer und einen Unterrock oder ein Unterhemd anhat. Sie fragten, ob ich ihnen beweisen kann, dass ich Schlüpfer trage. Sie schlossen einen Kreis um mich, sagten, ich soll mich nicht schämen. Natürlich zeigte ich ihnen meine Unterwäsche, die ich anhatte, aber vor allem den Schlüpfer. Ihre Überraschung war noch größer, als sie sahen, dass mein Schlüpfer mit Spitzen verbrämt war. Sie überzeugten sich davon, dass die Polinnen mit Gewissheit Schlüpfer tragen. Als ich dann, viel später mit ihnen sprach, erklärten sie mir, es ging ihnen nicht um die Polinnen, sondern um die Russinnen.
Ich erinnere mich auch, dass ich einen Schock erlebte, als alle im Betrieb beschäftigten Frauen der gynäkologischen Untersuchung zwangsweise unterzogen wurden. Zunächst gab es ein gemeinsames Bad. Ältere Frauen zusammen mit den jüngeren. Es war nicht einfach, dies durchzuführen, es gab Widerstände. Angeblich war die Untersuchung für unsere Gesundheit unerlässlich.

Ich kann nicht genau feststellen, wie lange wir bei Bergmann gearbeitet haben; diesbezüglich haben wir keine Dokumente. Nach einiger Zeit wählte man einen Teil des Lodzer Transports aus (mich und meine Mutter auch) und informierte uns, dass wir nach Łódź zurückkehren. Die Freude war enorm, aber verfrüht. Man brachte uns in einen anderen Stadtbezirk Berlins, nach Neukölln, in die Braunauerstraße 185, in die Baracken von den A. Krupp-Betrieben. Wir gelangten ins Arbeitslager, in dem etwa 5 oder 6 Baracken standen. Ein Zaun trennte sie voneinander; für jede Nationalität gab es eine andere Baracke. Auf dem Lagergelände gab es in der Hauptstraße eine Wache mit Wachmännern, die das Hinein- und Hinausgehen von den dort wohnenden Personen prüften. Auf der anderen Seite des Lagers gab es den zweiten Ausgang auf die Straße, die zur Fabrik führte. Gingen wir in die Stadt, so mussten wir den Buchstaben „P“ angenäht haben. Er sollte so befestigt werden, dass er zu sehen war.

Meine Mutter und ich wurden in einem Zimmer für ältere Frauen untergebracht. In jedem Zimmer waren 16 Personen. Es gab Etagenbetten; an denen in der Mitte des Zimmers hohe, enge Schränke standen. Es gab dort keinen Tisch, keine Stühle. Briefe schrieb ich auf dem obersten Teil des Schranks. Es waren alte Baracken, ekelhaft verwanzt. Ich schlief im oberen Bett, meine Mutter in dem unteren. Auf mich fielen von der Decke ganze Scharen von Wanzen herunter, und auf meine Mutter die von meinem Bett. Nachts machten wir das Licht an und verhängten die Fenster, womit wir nur konnten, da die Verdunklung angeordnet war, sammelten die Scharen von Wanzen und verbrannten sie im Ofen. Ständig hatten wir Stiche am Gesicht, an den Händen und Beinen. Wir hatten keine Chance, sie auszurotten. Die Decken, unter denen wir schliefen, waren dunkelblau oder grau. Da sah man die zerquetschten Wanzen nicht. Täglich klopften wir die Decken und Strohsäcke aus, aber die Wanzen kamen nachts aus den Ritzen heraus und gaben uns nie Ruhe.

Nach der Versetzung in die Krupp-Betriebe bekamen meine Mutter und ich eine ähnliche Arbeit wie zuvor. Die Halle, in der wir arbeiteten, war groß, sauber, hell, mit großen, sauberen Fenstern. Links vom Eingang standen lange Tische mit befestigten Geräten, rechts standen große Maschinen, mit denen die Männer arbeiteten. Zur Arbeit ging ich gerne, da die Zeit und der ganze Tag schneller verliefen. Es war angenehmer, sich in der Fabrik aufzuhalten als in der Baracke. Darüber hinaus waren die deutschen Arbeiter und die Abteilungsleitung zu uns sehr freundlich. Zu dieser Zeit sprach ich bereits ziemlich gut Deutsch und oft holte man mich zum Dolmetschen. Meine Mutter wollte bis zum Ende des Krieges kein Deutsch lernen. Die dort beschäftigten Deutschen betrachteten uns mit Sympathie. Sie mochten mit uns scherzen und sprechen, was nicht verboten war. Aber nicht allen Ausländern zeigten sie Sympathie und Vertrauen. Besonders misstrauisch betrachteten sie die italienischen Sklaven, die ebenfalls in unserer Abteilung beschäftigt wurden. Sie arbeiteten mit den großen Maschinen. Ich weiß noch, dass sie ständig hungrig waren. Deutsche und Italiener mochten sich doch gegenseitig und brachten es oft zum Ausdruck. Sie sagten, der Grund für diese missliche Lage sei der Verrat, den die Italiener an den Deutschen begingen.

Einmal passierte folgendes: Einer der italienischen Sklaven hob im Vorbeigehen eine Handvoll Kartoffelschalen vom Müll auf und steckte sie in den Mund, um sie aufzuessen. Das sah der Wachmann, der sie zur Arbeit führte. Jener Sklave wurde angeschrien und geschlagen. Wie man uns später erklärte, hätte er eine Epidemie oder Krankheit verursachen können, was eine teurere Behandlung und die Senkung der Arbeitsleistung nach sich gezogen hätte.



Der Obermeister unserer Abteilung war xxxxx im Alter von etwa 45 Jahren. Sein Stellvertreter war damals ein älterer Herr, im Alter von etwa 60 Jahren. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Nach dem Ende des Krieges dachten meine Mutter und ich oft mit Herzlichkeit und Sympathie an diesen Menschen zurück.

Ich erinnere mich auch daran, wie meine Mutter sich schlecht fühlte, oft Herzschmerzen hatte, daher ihr Gerät ausschaltete und die Arbeit unterbrach. Von dem Meister bekam sie dann sofort den Passierschein und die Überweisung zum Arzt. Dieser kannte bereits meine Mutter und wusste, sie simuliert ihre Krankheit nicht. Oft erkundigte er sich nach ihrem Wohlbefinden.

1943 beklagte sich meine Mutter immer öfter über Herz-, Bauchspeicheldrüse- und Magenschmerzen. Sie hatte stark abgenommen, weil sie die Mahlzeiten, die wir bekamen, nicht zu sich nehmen konnte. Das Mittagessen brachte man in Thermosbehältern in den Betrieb. Das Essen war kalt. Meistens gab es schwarze, nicht bis zu Ende geschälte Kartoffeln und Spinat mit Sand. Bis heute kann ich mich nicht dazu überwinden, Spinat zu essen. Oft gab es nur Suppe aus Weißkohl mit Kartoffeln. Frühstück und Abendbrot machten wir uns selber, wobei wir die Zuteilung von Brot, Margarine und fester Marmelade aus Steck- und roten Rüben bekamen. Diese Zuteilungen konnte man als Hungerrationen bezeichnen. Zum Frühstück bekamen wir Tee in den Thermosflaschen. Manchmal gab es auch den Kaffee. Die Arbeit begannen wir um 7 Uhr früh und endeten um 16 Uhr. 15 Minuten dauerte die Frühstückspause und 45 Minuten die Mittagspause. Sehr oft fand ich in der Tischschublade an meinem Arbeitsplatz Obst, welches mir jemand zugesteckt hatte. Ich wusste nicht, wem ich zu danken hatte. In den Paketen von der Familie bekamen wir Haferflocken, Grieß und Mehl. So konnten wir uns zum Abendbrot etwas kochen, wenn der Ofen im Raum neben den Toiletten geheizt war. Dann öffnete man die Tür in dem oberen Teil des Ofens, und man musste den Topf über das Feuer halten, bis es kochte. Weich wurde es nie, eher nur gebrüht. Oft passierte es, dass man sich die Hand verbrannte, oder dass der Lagerführer, wenn er uns bei diesem illegalen Kochen erwischte, den Inhalt des Topfes auf dem Fußboden ausschüttete. Es gab eine Warteliste von denjenigen, die von dem Ofen Gebrauch machen wollten.

Niemals vergesse ich den dramatischen Vorfall, der sich in den ersten Monaten 1943 in der Baracke, während des Abendappells ereignete. Frau Lagerführerin machte oft gegen 20 Uhr den Appell. Alle Personen, die in der Baracke wohnten, gingen auf den Korridor und stellten sich auf beiden Seiten auf. Zunächst wurde abgezählt, d.h. die Anwesenheit wurde geprüft. Dann prüfte die Lagerführerin, ob unsere Hände, Füße und Kleider sauber sind. Dann erteilte sie uns Anweisungen. Sie tat es mit Hilfe einer Dolmetscherin, einer Polin, die niemand mochte. Frau Lagerführerin war eine junge Person, etwa 20 Jahre alt. Die Anweisung, die uns während des besagten Appells erteilt wurde, betraf die Achtung, die wir ihr entgegenzubringen hatten, was deutlicher zum Ausdruck gebracht werden sollte. Dies sollte darin bestehen, daß wir die Haltung annehmen sollten, wenn Frau Lagerführerin mit uns sprach oder wenn sie unser Zimmer betrat. Meine Mutter ging ein paar Schritte nach vorne, erklärte, sie sei in keinem Gefängnis sondern bei der Arbeit, und Frau Lagerführerin sei zu jung, um von älteren Menschen zu verlangen, vor ihr Haltung anzunehmen. Sie sagte, ich zitiere: „Sie können so etwas von meiner Tochter verlangen, aber von mir nicht.“ Als sie das ausgesprochen hatte, bekam sie eine Herzattacke und fiel zu Boden. Weinend lief ich zu ihr und versuchte, sie hochzuheben, aber sogleich wurde ich aufgerufen, mich wieder in die Reihe hinzustellen. Der Appell ging zu Ende. Man brachte meine Mutter ins Zimmer. Alle Frauen waren erschrocken und ich war verzweifelt, da meine Mutter nicht zu Bewusstsein kam. Nach einer Stunde rief man einen Krankenwagen. Meine Mutter wurde ins Krankenzimmer verlegt. Man stellte einen Herzinfarkt fest. Am nächsten Tag brachte Frau Lagerführerin einen Elektrokocher ins Krankenzimmer und sagte, meine Mutter müsse warmes Essen bekommen. Sie nahm meine Mutter unter ihre besondere Obhut. Die Krankheit währte ziemlich lange. Ihr Gesundheitszustand wurde von Tag zu Tag schlimmer. Sie hatte starke Kopfschmerzen, Herz- und Magenschmerzen. Für mich war es eine furchtbare Zeit. Es schien, sie stirbt gleich. Jeden Tag, als ich von der Arbeit kam, lief ich zu ihr, um zu sehen, ob sie noch lebt. Mit Mühe hob sie ihre Lider hoch, die Augen hatte sie stets geschlossen. Sie hatte keine Kraft zum Sprechen. Ich erinnere mich, Ostern nahte. Es war am Karfreitag. Ich kam ins Zimmer hinein und zum ersten Mal seit dem Krankheitsbeginn sah ich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie fing an zu erzählen es sei ein Wunder geschehen. Täglich betete sie. An diesem Tag bat sie Gott während des Gebets, sie möge nach Polen zurückkehren, und sie beschloss feierlich, bis zum Ende ihres Lebens am Karsamstag nichts zu essen. Und dann habe sie gespürt, wie der Schmerz, der sie die ganze Zeit plagte, allmählich wich. In der Tat: bis sie lebte, fastete sie streng am Karsamstag. Sie wurde von dem Betriebsarzt behandelt, der ihr persönlich Medikamente zum Einnehmen brachte.

Zu der Zeit, als meine Mutter krank war und aus dem Bett nicht aufstand, nahmen die Luftangriffe und Bombardierungen Berlins zu. Ich blieb mit meiner Mutter in der Baracke. Es waren schreckliche Augenblicke. Feuer. Dröhnen. Die Baracke erzitterte. Es zog sich lange hin, aber für uns war es eine Ewigkeit. Auch in dem Luftschutzkeller hatten wir vor den Luftangriffen Angst. Ich war aber dem Wahnsinn nahe, als ich die Bombardierungen in der Baracke überstehen musste. Als der Gesundheitszustand meiner Mutter sich besserte, gingen wir beide in den Luftschutzkeller, der sich in der Fabrik befand. Unsere Baracke stand in der Nähe von der Wache. Vor dem Luftangriff klingelte dort immer das Telefon auf eine bestimmte Weise. Und das bedeutete, gleich kommt der Alarm. Wir kannten die Signale, so konnten wir uns schnell anziehen und uns vorbereiten. Es gab nur einen Eingang, der in die Fabrik und in den Luftschutzkeller führte, und dieser war ziemlich eng. Man ließ alle Menschen gleichzeitig die Baracken verlassen. Die Leute liefen dahin, ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen. Es war unwichtig, ob sie jemanden an- oder umstießen. Die Russinnen nahmen in den Luftschutzkeller ihr ganzes Hab und Gut in Körben mit, die sie auf den Köpfen trugen. Die Menschen liefen, stolperten, fielen um, fluchten. ...

Nach der Krankheit hatte meine Mutter keine Kraft, um schnell laufen zu können, ich musste sie stützen, ja beinahe tragen. Bis wir den Luftschutzkeller erreichten, war oft der Luftangriff voll im Gange. Ich weiß noch, wie einmal die Wachmänner hinausliefen und uns ins Gebäude hineinzerrten, da ich vor Entsetzen und Anstrengung mit Blut spuckte und nicht imstande war, weiterzulaufen. Angeblich machte man während der Luftangriffe eine Rauchtarnung über die Fabrik (die weiß angestrichen war), so dass sie unsichtbar blieb. Während meines Aufenthaltes in Berlin wurde sie nicht beschädigt.

Ich erinnere mich an einen für mich und meine Mutter verhängnisvollen Zufall. Das Datum weiß ich nicht mehr, aber es war der Sommer 1943. Unsere Fabrik besichtigte der Besitzer, Alfred Krupp. In unsere Abteilung kam er in Begleitung von einer Gruppe hoher Offiziere in grünen Uniformen. Es waren etwa 30 Personen. Alle waren zufrieden, lächelten. Damals arbeitete ich mit dem Mikroskop, in der Mitte der Halle. Herr A. Krupp hielt ein paar Schritte vor meinem Arbeitsplatz an und fragte den Meister, welche von den Polinnen Deutsch sprechen kann (wir arbeiteten mit dem Buchstaben „P“ an unseren Kleidern). Der xxxxx zeigte auf mich. Ich hatte damals zwei dicke, lange Zöpfe und Neugier im Gesicht, da ich einer solchen weltbekannten Person begegnete. Herr Krupp kam auf mich zu und fragte lächelnd, ob ich weiß, wer den Betrieb besucht. Ich stand auf und antwortete ebenso lächelnd: „Ich weiß, sie sind der Besitzer der Fabrik, Alfred Krupp.“ Er fragte mich, woher ich komme, aus welcher Stadt. Ich antwortete, ich komme aus Łódź. Die nächste Frage betraf Berlin, ob es uns gefällt. Daraufhin erzählte ich ihm von den Wanzen, von den ekelhaften, kalten Mittagessen, von den fehlenden richtigen sanitären Bedingungen in den Baracken und von der Krankheit meiner Mutter. Als ich zu reden begann, sagte ich, unbewusst, welche Folgen dies für uns hätte haben können: „Die Deutschen haben uns betrogen und belogen. Sie sagten uns, wir fahren nach Łódź und stattdessen brachten sie uns in Ihre Fabrik!“. Die ganze Zeit schaute ich ihm ins Gesicht, er lächelte immer noch. Dann sah ich, wie er purpurrot wurde. Ich schaute zu unserem Meister, der dagegen weiß wurde. Auf den Gesichtern der Offiziere sah ich auch kein Lächeln mehr. Ich begriff, ich habe zu viel gesagt. Herr Krupp fragte den Meister, ob meine Mutter tatsächlich krank sei, was letzterer bestätigte. Dann lachte er laut auf, klopfte mich auf die Schulter und sagte: „Ich muss dich davon überzeugen, dass die Deutschen nicht lügen. Du fährst zusammen mit deiner Mutter mit dem nächsten Transport nach Łódź.“ Zugleich fragte er nach meiner Mutter. Ich zeigte auf sie, da sie zwei Tische weiter arbeitete. Er wollte mit ihr sprechen, aber als sie sah, dass er auf sie zukam, stellte sie ihr Gerät ein und ging aus der Halle. Er kam zu mir zurück und sagte lachend: „Ja, ich sehe es ein, deine Mutter ist tatsächlich krank.“
Nach dem Besuch von Herrn A. Krupp hatte ich keine Unannehmlichkeiten wegen meiner für diese Zeiten allzu gewagten Äußerung. Bis heute halte ich A. Krupp, obgleich er nicht mehr lebt, für einen hervorragenden Diplomaten und Politiker.

In Wahrheit fuhren wir nicht mit dem ersten Transport nach Łódź, aber mit dem zweiten oder dritten. Es stellte sich nämlich heraus, dass A. Krupp in Łódź eine Fabrik (heute Wigura- Straße Nr. 21) errichtete, zu der man uns im Januar 1944 geschickt hat. Und eben dort arbeitete ich mit meiner Mutter bis zum Januar 1945. Wir machten dieselbe Arbeit wie in Berlin. xxxxx (ich bin mir nicht sicher, ob ich seinen Namen richtig schreibe) kam zusammen mit uns nach Łódź. Nach dem Ankommen in Łódź ging es meiner Mutter besser. Die Oma wandte eine richtige Diät an und behandelte sie mit Kräutern.

Während der Okkupation arbeitete meine Großmutter bei unseren Bekannten auf dem Lande, in der Nähe von Łódź, wo sie bei der Großziehung eines Kleinkindes aushalf, wofür sie Essen und Brotmarken bekam.

Ende November 1944 benachrichtigte der Meister mich und meine Mutter, dass wir im Dezember nach Essen versetzt werden sollten, wo es auch eine Fabrik von A. Krupp gab, versetzt werden. Wir hatten Angst davor, da wir von starken Luftangriffen und Bombardierungen dieser Stadt hörten. Als meine Großmutter von unserer Versetzung erfuhr, erlitt sie plötzlich einen Schlaganfall und starb. Ich erbat bei dem Meister eine Verschiebung der Ausreise, indem ich ihm die Sterbeurkunde der Großmutter zeigte. Alle Angelegenheiten, die mit der Beerdigung zusammenhingen, musste meine Mutter erledigen, da die Oma keine anderen Kinder hatte. Der Meister wusste nicht, ob die Betriebsleitung damit einverstanden sein wird. Nach ein paar Tagen informierte man uns, unsere Ausreise sei auf Januar 1945 verschoben worden. Ich weiß noch, wie meine Mutter und ich uns bei den Meistern noch im Dezember bedanken wollten, aber sie sagten, sie bräuchten nichts, sie hätten alles, was nötig war.

Der Einmarsch der sowjetischen Armee in Łódź befreite uns davon, nach Essen fahren zu müssen. Im Januar 1945 verabschiedeten wir uns von unseren Meistern, von einem Tag auf den anderen. Sie fuhren einfach weg und sagten niemandem Bescheid. Die Einstellung der Meister zu den Ausländern, mit denen sie arbeiten mussten, war korrekt, und ich halte sie für redliche, gerechte Menschen. Sie waren nicht verlogen, falls sie etwas gegen jemanden hatten, sagten sie es direkt und warnten einen.

Außerhalb vom Betrieb unterhielten wir keine privaten Kontakte mit der deutschen Bevölkerung, da dies verboten war, und die Deutschen hielten sich streng an die geltenden Anordnungen.

Ich erinnere mich an keinen einzigen Kirchenbesuch in Berlin. Das religiöse Leben bestand aus Gebeten, gehalten in der Baracke, je nach individuellen Bedürfnissen einzelner Personen. Kirchen, Kinos, Theater, Geschäfte waren ausschließlich für die Deutschen. In fast allen Schaufenstern gab es Schildchen mit der Aufschrift: „Nur für Deutsche“. Als wir Berlin besichtigten, schauten wir uns Schaufenster und Häuserfassaden von außen an, aber wir hatten keine Möglichkeit, etwas von innen zu sehen. Die Bauweise war der bei uns ähnlich. In manchen Straßen konnte man Villen und Häuser mit Gärten sehen, aber ich sah keine solchen Paläste, welche in Łódź den deutschen und jüdischen Industriellen gehörten.

Ein Wunder der Technik, über das Berlin verfügte, waren die öffentlichen Verkehrsmittel: die S- und U-Bahn. Ich bewunderte auch das Warenhaus am Alexanderplatz. Ich kann nicht umhin, die auffallende Sauberkeit auf den Straßen Berlins zu erwähnen.

Während meines Aufenthaltes in Berlin korrespondierte ich mit der Familie und den Bekannten. Die abzuschickende, wie auch die ankommende Korrespondenz sah die Lagerführerin durch. Angeblich resultierte das aus einer Anordnung der höheren Behörden. Wir bekamen auch Pakete aus Polen. Ich erinnere mich, dass auch mein Bruder uns ein Paket mit sauren Äpfeln zuschickte. Am meisten freute sich darüber meine Mutter, obgleich sie sie nicht essen durfte, aber die Tatsache, dass er die Genehmigung bekam, ein Paket abzuschicken, war für sie das Wichtigste.

Mein Bruder konnte ein bisschen Deutsch, als er 1940 nach Deutschland verschleppt wurde, da er es zwei Jahre lang am Gymnasium lernte. In dem Gutshof arbeitete er und dolmetschte zugleich. Fünf Jahre lang arbeitete er an demselben Ort. Er kehrte 1945 nach Polen zurück. ... xxxxx . ... 1991 wurde er eingeladen und Gastfreundschaftlich von dem Gutshofverwalter in Freistatt empfangen.

Meine Mutter .... arbeitete nach dem Krieg bis 1953 bei Scheibler. Leider war ihr Gesundheitszustand nicht gut genug, damit sie ihre Arbeit als Weberin hätte aufnehmen können. 1953 bekam sie die Behindertenrente. Sie starb 1961 nach einer Magenoperation. Sie war erst 57 Jahre alt. Sie war für mich die wunderbarste Mutter und die liebste Oma für meine Söhne. Sie erfreute sich der Hochachtung und Liebe, sowohl von Seiten der nächsten Familie als auch der Bekannten und Nachbarn, die sie bis heute sehr herzlich in Erinnerung behielten. In Notzeiten war sie immer hilfsbereit: sie hatte immer einen guten Rat und sprach den anderen Trost zu. Nach ihrem Tod erkannte ich, was für einen enormen Schatz sie in meinem Leben darstellte.

Im Januar 1945 war ich 18 Jahre alt, hatte viel Energie und viele Pläne, was meine Ausbildung und den Beruf betraf. Im Februar 1945 nahm ich die Arbeit bei der Verlagsanstalt „Czytelnik“ auf und begann die Ausbildung an dem privaten Gymnasium von Domiczyński in Łódź. Ich arbeitete und setzte die Ausbildung fort. Das Gymnasium schloss ich 1950 ab. Dann bestand ich die Aufnahmeprüfung und studierte in den Jahren 1951- 1952 Jura an der Lodzer Universität. 1952 heiratete ich und unterbrach das Studium. ...

Xxxxx nahm ich die Arbeit (halbe Stelle) wieder auf. Insgesamt arbeitete ich 46 Jahre lang, die Arbeit während des Krieges eingeschlossen. ...

Ich muss leider zugeben, dass ich große innere Widerstände überwinden musste, um diese Erinnerungen niederzuschreiben. Zu viele Emotionen kommen dabei zum Vorschein, was nach so vielen Jahren Tränen hervorruft und mein Wohlbefinden beeinträchtigt. Ich bemühte mich, objektiv zu bleiben, unsere Lebensbedingungen kurz zu schildern und die Fragen aus dem Schreiben von Frau Gisela Wenzel zu beantworten.

Die Repressionen, denen ich ausgesetzt wurde, wurden meiner ganzen Nation so oder anders zuteil. Noch heute, nach 50 Jahren, erfuhr ich Demütigung, als ich von den Deutschen die xxxxx für fünf Jahre Sklavenarbeit, unter Bedingungen, die der Menschenwürde spotteten. Ich überlege mir, warum wir Polen als Nation diskriminiert waren und immer noch sind. Es ist uns bekannt, dass die Personen, die in den westlichen Ländern leben, Renten für ihre Zwangsarbeit bekommen, und dies seit langem. Auch Frankreich zahlt die Renten den Polen, die während des Krieges auf seinem Territorium arbeiteten. Ich halte die Teilung der Menschen in zwei Kategorien: die besseren und die schlechteren, für ungerecht. Wir alle arbeiteten doch fünf Jahre lang für die deutsche Wirtschaft, wofür wir keine Entlohnung bekamen. Um zu überleben mussten wir unsere Güter, die wir uns bis 1939 angeschafft hatten, verkaufen, und darüber hinaus verloren wir unsere Nächsten, unsere Gesundheit und Kindheit. Von den Personen, die als Zwangsarbeiter arbeiteten, sind nicht mehr viele geblieben. Es sind alte und kranke Menschen, die sich der Ungerechtigkeit bewusst sind.

Ich bin Frau Gisela Wenzel sehr dankbar, dass sie in der Öffentlichkeit ein Thema darstellen will, das bis dahin als ein Tabu betrachtet wurde. Ein Psychologe sagte: Schmerz und physisches Leiden lassen sich behandeln und können geheilt werden; leider bleiben die psychischen Traumata in den Menschen für immer.

Ich möchte, dass unsere beiden Nationen, die deutsche und die polnische, für immer in Freundschaft leben. Ich wünsche Ihnen und der ganzen Gruppe viel Gesundheit, Ausdauer, Geduld und Verständnis bei der Bewertung unserer Erinnerungen sowie viel Erfolg und Zufriedenheit.

Łódź, im Januar 1998

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DZSW 1455
Kurzbeschreibung

Jadwiga R. empfand die Fabrikhalle der A. Krupp-Betriebe angenehmer als die Baracke, in der sie untergebracht war. Der Kontakt zu den deutschen Mitarbeitern gestaltete sich sehr gut. Sie traf sogar den Besitzer Alfred Krupp, dem sie als 15-Jährige persönlich ihr Leid mutig erzählte.

 

Herkunftsland: Polen

Geburtsjahr: 1926

Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt