Abschrift: Xxxx

Datum der Verschleppung zur Zwangsarbeit nach Deutschland: 5.9.1944 (aus Warschau)
Arbeitslager der Deutschen Reichsbahn, Lager Ellerbekerstraße 7-8, Berlin (Gesundbrunnen)
Beschäftigt beim Reichsbahn-Ausbesserungswerk Berlin

Berliner Geschichtswerkstatt e.V. Łódź, den 3.12.1997
Goltzstr. 49
D-10781 Berlin

Als Antwort auf den Aufruf von der Berliner Geschichtswerkstatt, anerkannt als gemeinnütziger Verein, die sich mit der Forschung der Schicksale der Zwangsarbeiter befasst, die in den Jahren 1939-1945 in Berlin eingesetzt wurden, übergebe ich Ihnen folgende Erinnerungen.

1. Krieg und Aussiedlung

Um das Schicksal eines Polen, der zwangsweise zur Arbeit nach Deutschland verschleppt wurde, zu begreifen, reicht nicht, über die Bedingungen seiner Unterkunft und Arbeit zu erfahren. Man soll, zumindest flüchtig, von den Repressionen wissen, denen er vom Anfang des Krieges und der Okkupation ausgesetzt wurde. Denn die frühere physische und materielle Degradierung beeinträchtigte wesentlich die psychischen Widerstandskräfte und verstärkte das Gefühl des erfahrenen Unrechts bei der Zwangsarbeit.


Zur Zeit des Kriegsausbruchs lebte ich zusammen mit meiner Mutter, meinem Vater (einem Ingenieur) und meinem älteren Bruder (einem Flieger) in Łódź. Nach den Septemberkämpfen (1939 Anm. d.Ü.),an denen ich bei der Verteidigung Warschaus als Mitglied des Bataillons der Nationalen Verteidigung teilnahm und dem ich als Freiwilliger beitrat (ich war im Vormusterungsalter), kehrte ich nach Łódź zurück. Im Frühjahr 1939 schloß ich die Oberschule (mit Abitur) ab und ich sollte das Studium anfangen. Leider wurden alle Hochschulen von den Besatzern geschlossen. Am 9. November nahm die Gestapo meinen Vater fest. Geschlagen und gefoltert, starb er bald danach. Am 12. Dezember 1939, als mein Bruder und ich von der Stadt nach Hause kamen, fanden wir die Wohnung mit einem Siegel versehen vor. Die Mutter wurde in unbekannte Richtung deportiert. Auf dem Siegel lasen wir: "Die Wohnung samt ganzer Einrichtung ist ein Eigentum des Reiches. Beschädigung des Siegels oder das Hinaustragen von irgendetwas wird mit dem Tod bestraft." Ebenso verbat man bei Todesstrafe den Deportierten, nach Łódź zurückzukehren (die Stadt wurde dem Reich einverleibt). Auf diese Weise wurden wir innerhalb von 10 Minuten zu obdachlosen Bettlern, wobei sich die Nachbarn davor fürchteten, uns bei sich übernachten zu lassen. Sie wurden übrigens auch bald danach ausgesiedelt, wobei man ihr ganzes Hab und Gut beschlagnahmte.
Den ersten Winter überstanden wir auf dem Lande, in der Nähe von Radomsko, wo eine befreundete Familie einen Gutshof hatte. Dann gingen wir nach Warschau, wo ich zunächst zusammen mit meinem Bruder ein Jahr lang als Arbeiter arbeitete, und dann, vom 1941 bis zum Aufstand (Warschauer Aufstand 1944 Anm.d.U.) als Beamter beim Städtischen Schulamt. 1943 wurde mein Bruder von der Gestapo festgenommen, eingesperrt im Pawiak-Gefängnis, dann in Auschwitz, Mauthausen Wien Schwechat. Schließlich kam er ums Leben, vergast am 24. April 1945 in Mauthausen-Gusen (in der Nähe von Linz).
Während des Aufstandes in Warschau, der am 1. August begann, wurde ich aufgrund des Fehlens von Waffen einer Pionierkompanie eingegliedert. Am 5. September gelangten wir, meine Frau und ich, in die Solec-Straße (Stadtbezirk Powiśle), wo uns die SS Truppen gefangen nahmen.
Hierher gehört die Erklärung, dass ich im Februar 1944 heiratete; meine Frau und ich wohnten in der Słupecka-Straße 4. Die Aufstandskämpfe schnitten uns von unserer Wohnung ab, die wir nie mehr sahen. Sie brannte samt unserem Hab und Gut nieder.

2. Zwangsdeportation nach Berlin

Warschau brannte und bald wurde es vollständig zertrümmert. Der Aufstand begann inmitten des Sommers, also hatten wir nur die Sommerkleidung mit. Meine Frau war im dritten Monat der Schwangerschaft. Vom Schicksal meiner Mutter wusste ich nichts. Man trieb uns durch die zertrümmerte Stadt zum Lager in Pruszków. Unterwegs trennte man die Männer von den Frauen. Dank der Pfiffigkeit meiner Frau und dem zufälligen Glück ist es uns gelungen, uns in Pruszków wieder zusammenzufinden. Nach drei Tagen wollte man uns im Verlauf der Selektion wieder trennen, aber wieder dank einem Winkelzug gelang es uns, in einer Gruppe zu sein, die von der Deutschen Reichsbahn ausgewählt wurde. Hier konnten die Frauen bei ihren Männern bleiben.

In Pruszków bekamen wir drei Tage lang keine Verpflegung. Nur einmal ließ man einen Pferdewagen von einem polnischen Gutshof vorfahren, von wo man uns zwei Fässer Suppe schickte. Leider hatten wir kein Geschirr, um sie zu bekommen.

Man lud uns in die Güterwaggons ein und fuhr uns über die Übergangslager in Breslau, Schulzendorf, Erkner (hier war es verhältnismäßig anständig) nach Berlin, in die Ellerbeker Straße 7-8, wo in einem riesigen, dreistöckigen Schulgebäude sich ein der Deutschen Reichsbahn zugehörendes Lager befand.

3. Lebensbedingungen im Lager

Das Lager wurde von einem gewissen Bastian, genannt Lagerführer, verwaltet, der früher angeblich ein Schulhausmeister gewesen sein soll. Er war ziemlich streng und wurde nicht besonders gemocht, aber er überschritt seine Befugnisse wohl nicht, die für das Bewahren von Ordnung und Disziplin nötig waren. Übrigens, er wurde von dem für das Lager zuständigen Bahninspektor, einem sehr kultivierten Herrn, gemäßigt; bei ihm beklagten wir uns, wenn es nötig war.


Die schlimmste Seite des Lagers war die fatale und unzureichende Verpflegung und die noch schlimmeren "Wohnbedingungen". Wir bekamen keine Lebensmittelkarten, also waren wir ausschließlich auf die Suppe aus gelben Rüben, ausgegeben aus einem Kessel, und auf den ekelhaften Malzkaffee angewiesen. Nur der "trockene Proviant", den man (wenn ich mich recht entsinne, zweimal wöchentlich) zum Frühstück ausgab, könnte man als qualitativ annehmbar bezeichnen, obgleich vollkommen unzureichend, was die Menge betraf. Es war dunkles Brot, manchmal ein Stückchen Margarine, Leberwurst oder Mohrrübenmarmelade. Die Arbeit, einschließlich der Anfahrt, dauerte ca. 12 Stunden, also musste man etwas zur Arbeit mitnehmen. Zum Abendbrot blieb nichts mehr übrig. Der Kaffee war so entsetzlich, dass ich ihn manchmal durch das dunkle Bier ersetzte, das einzige Produkt, das uns ohne Lebensmittelkarten in der nahen Gaststätte zugänglich war. Einmal gelang es mir, dort den Schneckensalat zu kaufen.

In der letzten Periode vor der Niederkunft bekam meine Frau Grieß mit Wasser gekocht. Was für ein Kind konnte man von einer Frau erwarten, die im besetzten Warschau, kurz vor dem Aufstand empfing und die inmitten der Schlacht um Berlin gebären sollte? Daher bemühte ich mich, zusätzliches Brot aufzutreiben, denn es war unsere Grundnahrung. Zum Teil gelang mir das, als eine Bombe ein Amt für die Lebensmittelkartenausgabe traf. Die Polen, die im Stadtreinigungsbetrieb beschäftigt waren, fanden während der Enttrümmerungsarbeiten ein wenig Karten für die "Urlauber". Mittels Tausches oder anderer Dienstleistungen gelang es mir, ein paar solche Karten zu bekommen, für die man Brot oder kleine Lebkuchen kaufen konnte. Dank dessen konnte ich ein paar Mal ein kleines Paket an meinen Bruder in das Konzentrationslager schicken. Leider bekam er diese Pakete nicht, denn inzwischen wurde er aus Wien-Schwechat nach Gusen versetzt, wo er umgekommen ist.

Das Fehlen der Winterbekleidung war für uns eine Bedrohung für die Gesundheit. Wir verließen unser Haus im August, und jetzt war der Winter. Bei 15 Grad Frost arbeitete ich beim Aufbau des zum Teil zerbombten Gebäudes unseres Lagers. Die Bombe fiel direkt auf den Kesselraum; infolge dessen gab es im ganzen Gebäude keine Heizung mehr. Wir stellten uns kleine Kohleöfen hin, aber da jeglicher Brennstoff fehlte, nahmen wir die Zaunlatten von den nahen Schrebergärten. Die Besitzer beklagten sich beim Lagerführer, der dann durch die Säle herumlief und alle Öfen mit den Füßen zertrat. Er wollte mich mit der Faust schlagen, holte aus, aber meine Frau stellte sich zwischen uns hin. Die Schrebergärtner wussten noch nicht, dass ihre Gärten bald dem Erdboden gleichgemacht und von den sowjetischen Panzern zerwühlt werden. Eines Tages gab man uns alte, gebrauchte Kleider (die vermutlich aus den ausgeraubten, besetzten Städten stammten) aus. Ich bekam auch ein Paket von meiner Tante aus Łódź, die tschechischer Herkunft war und deswegen nicht ausgesiedelt wurde.

Der Ehemann einer der Schwestern meines Vaters war deutscher Abstammung und hatte seine Familie in Teltow, im Süden Berlins. Ich bekam mit einem Brief ihre Adresse. Das war Herr Max Müller mit Frau, wohnhaft Sandstraße 4. Herr Müller kam ins Lager und besorgte uns Passierscheine. Ein paar Mal besuchten wir sie. Wir wurden immer sehr herzlich empfangen.

Im Lager gab es keine Beschränkungen des Briefwechsels. Man konnte auch aus dem Lager ausgehen, wenn man eine abgestempelte Arbeitskarte hatte. Es gab jedoch nicht besonders viel Freizeit, da man erst abends von der Arbeit zurückkehrte. Dafür sorgten aber an den Abenden und manchmal auch in den Nächten Alarme und heftige Luftangriffe, bei denen man verpflichtet war die Zeit im Luftschutzkeller zu verbringen, für Abwechslung. Manchmal gingen wir sogar zum riesengroßen, zehnstöckigen Bunker aus Eisenbeton, zu dem bereits ab 19 Uhr die Bevölkerung des ganzen Bezirks Gesundbrunnen hinströmte. In meinem Taschenkalender (aus dem Jahre 1945), den ich bis heute besitze, notierte ich am 27. März: "die 39. Nacht, der 39. nächtliche Luftangriff."

Infolge des Frostes und der Unterernährung bekam ich in den Achselhöhlen Geschwüre, groß wie Walnüsse. Man behandelte sie zunächst mit der Bestrahlung, dann entschloß man sich, sie durchzuschneiden. Ein junger Arzt, Fähnrich, wollte ohne Betäubung schneiden. Da ich kein Deutsch konnte, wandte ich mich an ihn auf Französisch mit der Bitte, mir eine Narkose zu geben. Er erwiderte, die Narkose fehlt, sogar für die Soldaten an der Front. Dennoch wurde ich betäubt. Zu demselben Universitätskrankenhaus in der Ziegelstraße fuhr ich, den Verband wechseln zu lassen. Zu dieser Zeit näherte sich die Niederkunft meiner Frau. Es war Anfang April. Ich musste bei der Entbindung dabei sein, denn ich sollte der einzige Geburtshelfer sein. Wäre ich zur Arbeit gegangen, so wäre dies unmöglich gewesen. Die Krankenschwester, die mir den Verband wechselte und die Krankschreibung auf der Arbeitskarte abgestempelte, hätte mich bereits zur Arbeit schicken sollen da sie aber wusste, dass ich auf die sich verzögernde Entbindung meiner Frau wartete, verband sie mich und stempelte meine Krankschreibung für ein paar Tage länger. Dies werde ich nie vergessen. Berlin war sehr zerbombt. Eines Tages wollte ich die Stadt besichtigen und spazierte ein paar Stunden in Charlottenburg herum, auf dem Kurfürstendamm, Lützowplatz, und ich sah kein heilgebliebenes Haus. Aber das Schlimmste sollte noch kommen Ich kannte es aus Warschau.

Das offene Lager ermöglichte uns, ins Kino (in der Nähe gab es das Kino "Lichtburg") und in die Kirche zu gehen. Das war nur ohne das Abzeichen mit dem Buchstaben "P" möglich, das wir zu tragen verpflichtet waren. Wir trugen es also mit einer Sicherheitsnagel befestigt und zur Not nahmen wir es ab. Einmal gingen wir in die Kirche, ohne das Abzeichen abgenommen zu haben, denn wir vermuteten nicht, daß wir auch dort die Diskriminierung hätten erfahren können. Nach einer Weile kam der Küster auf uns zu und forderte uns auf herauszugehen. Vor der Kirche teilte er uns mit, wir sollen unsere "Ps" abnehmen, dann könnten wir unerkannt wieder rein.

Die Wohnbedingungen waren schrecklich und das war die schlimmste Seite unseres Schicksals. Im Lager wurden etwa 600 Personen festgehalten, meistens waren es die Polen, die aus dem kämpfenden Warschau deportiert wurden. Es gab dort auch 60 Ukrainer. Wir waren in Klassenzimmern verteilt, in denen je 15 Etagenpritschen für 30 Personen standen. Zwischen den Pritschen paßte nur ein Hocker rein. Bei den Pritschen fehlten die Querlatten (nur jede zweite war da). Die Strohsäcke waren mit Papierschnittresten gestopft, die sich zu harten, ungleichmäßigen Klumpen zusammenballten. Die Latten brachen durch. Trotz des Frostes wurde das Gebäude nicht geheizt, sogar nach dem Enttrümmern des Kesselraumes. Von diesen kalten Räumen gingen wir manchmal zur Arbeit bei 15 Grad Frost (z.B. beim Ausladen der Waggons mit gelben Rüben). In den Sälen wohnten, oder eher hausten zusammengepfercht, Männer gemeinsam mit Frauen. In einem solchen Saal gebar meine Frau in Anwesenheit von 30 Personen das Kind; es dauerte die ganze Nacht. Im Lager gab es keine Krankenstube. In der Stadt gab es eine Entbindungsstation für die "Ostarbeiter", aber sie wurde von den Ukrainerinnen betreut, so daß wir kein Vertrauen hatten.

4.Die Arbeit

Die Bewohner unseres Lagers fuhren zur Arbeit in verschiedenen Eisenbahnbetrieben. Meine Frau und ich fuhren nach Schöneweide, wo wir im Reichsbahn-Ausbesserungswerk arbeiteten. Meine Frau hieß man, die Hallen zu kehren, dann sollte sie die Kabel zuschneiden. Sie hielt; diese Arbeit nicht aus, bis sie endlich, angesichts der sich nähernden Entbindung, obgleich nicht ohne Schwierigkeiten, entlassen wurde.
Mir wies man anfänglich die Arbeit unter den Waggons zu, in den Kanälen, was auch meine Beamtenkräfte überstieg. Als man mich die schmutzigen Klosettbecken abmontieren ließ, bäumte ich mich auf und weigerte mich. Nach einem Krach führte man mich zu dem Meister, der mich zwar beschimpfte, aber zu einer leichteren Arbeit versetzte. Dort traf ich auf einen sehr kultivierten Meister und ziemlich anständige Kollegen Deutsche. Dort arbeitete ich bis zum Ende des Krieges. Ich malte auf den Fahrgestellen der reparierten Waggons und auf den Fensterscheiben der Personenwaggons verschiedene Aufschriften (in der Art ,,Feind hört mit" usw.).

Die Arbeit dauerte 10 Stunden und 15 Minuten. Man hielt sich streng an die Disziplin. Einmal ertönte die Feierabendsirene, als ich schon auf der Treppe zum Umkleideraum war; dafür bekam ich einen gewaltigen Tritt von dem Polizisten, der mich dort erblickte.

Im Falle eines Alarms ging die ganze Belegschaft pflichtgemäß in den Schutzkeller herunter. Und für die ,,Ostarbeiter" waren es gewöhnliche Gräben, zugedeckt mit Brettern und Erde. Ich mochte nicht dahin gehen. Einmal versteckte ich mich und dann beobachtete ich den gewaltigen amerikanischen Luftangriff auf Berlin. Ich zählte 1.200 Flugzeuge B-29. Ich sah Hunderte Flakgeschosse explodieren, ein paar Flugzeuge brennen und herunterfallen. Ich sah die sich öffnenden Fallschirme der abgesprungenen Flieger. Nach diesem größten Luftangriff (26. Februar 1945) fuhr die S-Bahn nicht mehr, die Stadt brannte so stark, daß man manche Straßen nicht passieren konnte. Den Weg von Schöneweide zum Lager, den ich normalerweise in einer knappen Stunde zurücklegte, ging ich jetzt 6 Stunden, meistens zu Fuß, ein Stückchen auf der Treppe der Straßenbahn.

Nur den Massen von den ,,Ostarbeitern" verdankte Berlin die Möglichkeit, den Verkehr schnell wiederherzustellen. Nach drei Tagen war fast alles wieder intakt.
5.Die Schlacht um Berlin
Anfang April 1945 standen die Bolschewiken an der Oder. In jedem Augenblick hätten sie angreifen können. Meine Frau stand gerade kurz vor der Entbindung. Ich war ihr einziger Geburtshelfer. Das uns in einem Paket zugeschickte Laken riß ich in kleine Windeln. Ich hielt warmes Wasser und die Schere bereit. Meine Frau lag auf der mit einer grauen Decke zugedeckten Pritsche. Dreißig Personen im Saal. Die Wehen setzten um 16 Uhr ein, am 16. April. Kurz danach kam ein Luftangriff. Ich führte sie in den Luftschutzkeller herunter. Sie gebar das Kind um 9 Uhr 40, am nächsten Tag, 9. April. Am Mittag kam wieder ein Luftangriff. Zusammen mit einem Kommilitonen trugen wir meine Frau auf der Trage in den Schutzkeller herunter.
Am 16. April ging die große sowjetische Offensive an der Linie Küstrin-Frankfurt los. Die ersten Artilleriegeschosse fielen auf das Lager am 21. April. Es gab Tote. Für mich, meine Frau und meinen Sohn war jetzt der Schutzkeller der ständige Aufenthaltsort. Dieser Keller hatte nur drei Wände, die vierte wurde durch eine Bombe weggefegt. Durch dieses Loch sah man die Eisenbahngleise und hinter ihnen die russischen Panzer im Angriff. Um es besser zu sehen und dieses historische Ereignis beobachten zu können, ging ich, die Gefahr nicht achtend, zum 2. Stockwerk hinauf, und aus dem Versteck beobachtete ich die Schlacht. In meinem Taschenkalender notierte ich unter dem Datum 24. April: “Tote im Lager. Die Deutschen ziehen sich über die Hindenburgbrücke zurück. Durch das Fenster beobachte ich die Straßenkämpfe um die Brücken. Der Gegenangriff der deutschen Infanterie, unterstützt von einem Panzerwagen, über die Brücke.“ Und weiter, am 25. April: “Die sowjetischen Soldaten bezogen Stellung auf dem Gelände unseres Lagers.“ 26. April: “Deutsche Patrouille im Lager.“ Dreimal ging das Lager von den einen in die anderen Hände. Auf dem Gelände der Schrebergärten, die das Lager umgaben, 11 stellte man zig sowjetische Granatwerfer hin. Die Panzer zertrümmerten die Holzhäuschen. Auf der Suche nach Lebensmitteln, die wir seit vielen Tagen nicht mehr bekamen, wagte ich mich in die Mitte der Kämpfe hinaus. Endlich, am 26. April schrieb ich auf: “Sowjetische Soldaten verlautbaren die Genehmigung, sofort nach Polen zurückkehren zu dürfen. Erste Gruppen verlassen das Lager.“Der für das Lager zuständige Eisenbahninspektor wurde von den sowjetischen Offizieren gezwungen, ein Glas Selbstgebrannten auszutrinken (die polnischen Lagerfunktionäre brannten ihn insgeheim in den Lagerkellern, höchstwahrscheinlich nicht ohne Wissen von Bastian); danach wurde er, soviel ich weiß, festgenommen. Der Lagerführer Bastian, an dem wir viel mehr auszusetzen hätten, verließ dagegen glimpflich das Lager. Nicht nur, daß die Polen ihn in Ruhe ließen; ihm half einer der polnischen Lagerfunktionäre, dem es gelang, seine Tochter zu verführen und gemeinsam mit ihm das Lager als ein “Verlobter“ zu verlassen. (!)

6. Die Rückkehr nach Polen

(...)In Łódź wartete auf uns meine Mutter, die ebenso nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurde, die aber (dank einer Schwester des Polnischen Roten Kreuzes) von dem Transport floh und trotz einer Verwundung durch eine Granate irgendwie den Winter überlebte; bereits im Februar kehrte sie nach Łódź zurück, wo sie unsere Vorkriegswohnung bezog, die übrigens von den flüchtenden Deutschen vollkommen ausgeraubt wurde. Der Vater und Bruder lebten nicht mehr.

Heute ist mein Sohn 52 Jahre alt. Er schloss ein Studium ab, hat zwei erwachsene Töchter, eigenes Haus und ein großes Unternehmen. Mir gelang es erst 23 Jahre nach dem Krieg, das Jurastudium abzuschließen. Seit 7 Jahren bin ich pensioniert. 1991, als der eiserne Vorhang fiel, fuhr ich nach Berlin, die Plätze zu sehen, an denen ich so viele schwierige Momente erlebte.

Das Gebäude in der Ellerbeker Straße ist schön renoviert worden und beherbergt immer noch eine Grundschule, zum Teil auch eine Hochschule. Die nahen Schrebergärten waren noch nie so schön und gepflegt wie heute. Vor der Schule entstand ein schöner Sportplatz mit der künstlichen Oberfläche.
Als ich durch das offene Eingangstor auf den Innenschulhof ging, lehnte sich aus dem Fenster im zweiten Stock, wo einmal meine Pritsche stand, eine Frau hinaus und fragte mich, wonach ich suche. Mit meinem gebrochenen Deutsch erklärte ich ihr, daß ich hier als “Ostarbeiter“ die Schlacht um Berlin erlebte und daß hier mein Sohn geboren wurde. Sie war sehr erstaunt und, wie es mir schien, schenkte sie mir nicht allzu viel Glauben.

* * *

Ich denke, die Erforschung der Schicksale der Zwangsarbeiter, die während des Krieges in Deutschland beschäftigt waren, stellt eine durchaus nützliche Arbeit dar und kann dazu beitragen, daß die Deutschen sich selber besser kennenlernen, sowie auch zur besseren Verständigung und zur Annäherung zwischen unseren Völkern.

Ich füge die Fotokopien der bruchstückhaften Dokumente und ein paar Fotos, aufgenommen 1991 in der Ellerbeker Straße, bei.

xxxx

Łódź , den 3. Dezember 1997


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    1. Dokument in Kopie: Lohntüte der Deutschen Reichsbahn für Anna P. mit 41,20 RM aus dem Konvolut des ehemaligen polnischen Zwangarbeiters Josef P.
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    3. Dokument in Kopie: Ärztliches Attest für Anna P. aus dem Konvolut des ehemaligen polnischen Zwangsarbeiters Josef P.; ausgestellt am 28.03.1945 (Berlin) durch Dr. med. Maria Peters; Lager Ellerbekerstr. 7-8
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    4. Lagerausweise der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter Josef P. vom 05.02.1945 und Zygmunt P.(Sohn) vom 09.04.1945 des Lagers in der Ellerbekerstraße 7-8, Berlin
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DZSW 1380
Kurzbeschreibung

Als Widerstandskämpfer während des Warschauer Aufstandes wurde Jozef P. mit seiner schwangeren Ehefrau festgenommen. Er war bei der Deutschen Reichsbahn als Zwangsarbeiter eingesetzt. Kurz vor der Befreiung Berlins kam sein Sohn während der Bombenangriffe auf die Welt.

 

Herkunftsland: Polen

Geburtsjahr: 1921


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Angaben zur Zwangsarbeit

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