Abschrift: xxxxx
Jhrg. 1926
xxxxx
Ukraine




Geehrte Gisela Wenzel!

Am 3. August 1997 habe ich Ihren Brief erhalten. Ich war sehr erfreut und zugleich gerührt, dass fremde Menschen mich doch nicht vergessen haben. Ihnen vielen Dank! Ein paar Tage konnte ich meine Gedanken nicht sammeln, um Ihnen einen Brief schreiben, d.h. eine Antwort, da schon viel Zeit vergangen ist. Fast alles ist vergessen, aber ich versuche trotzdem, es kurz zu beschreiben. Ich wurde in der Stadt Krolewez im Gebiet Sumskaja geboren, Swerdlow-Str Nr. 40, in der Familie eines Eisenbahners. Meine Mutter war Hausfrau. In der Familie waren wir fünf Kinder. Die ältere Schwester wurde 1924 geboren, ich 1926, eine Schwester 1932, ein Bruder 1937 und der jüngere Bruder 1941. 1941 hatte ich sieben Klassen abgeschlossen. Ich wollte dann in das Kiewer Landwirtschaftliche Institut eintreten. Aber mein Traum erfüllte sich nicht, da der Krieg das verhindert hat. Bald wurde uns mitgeteilt, dass die Deutschen die UdSSR unerwartet angegriffen hatten. Ich kann mich nicht genau erinnern, wie viel Zeit vergangen war, als sie, d.h. die Deutschen, in unserer Stadt waren. Und natürlich begann dann ein grauenvolles Leben. Die Stadt Krolewez ist eine Kleinstadt vom Rayon-Typus, und mein Haus war wie viele andere ein Privathaus. Wir hatten eine Kuh, Schweine, Hühner usw. Die Deutschen begannen dann, durch die Häuser zu gehen und nahmen mit, was sie brauchten, vergewaltigten die jungen Frauen und mir fiel das Los zu, nach Deutschland zu kommen, weil meine ältere Schwester in ein Dorf zur Oma gebracht worden war. Sie war schön und ein ansehnliches Mädchen. Und ich war umgekehrt ein sehr kleines, schlankes, absolut unauffälliges Mädchen, fast ein Kind, obwohl ich schon 15 war. Und dann, eines schönen Tages, wenn man das "schön" nennen kann,




gingen die Deutschen durch die Häuser und schrieben auf, wer freiwillig zur Arbeit fahren wollte. Aber in der Stadt liefen schon Gerüchte um, dass auf der Bahnstation von den Deutschen bereits ein Zug bereitgestellt worden war. Die Menschen würden zwangsweise verschleppt, da es wenig Freiwillige gab. Und alle die Leute saßen zu Hause wie die Mäuse, und natürlich hat man sich versteckt, wo man konnte. Der Vater war bei der Arbeit, weil er nicht der Wehrpflicht unterlag. Er musste nicht an die Front. Und die Mutter war mit den kleinen Kindern zu Hause. Zu der Zeit war ich mit Mädchen im Gemüsegarten, dann hörte ich Lärm, wir hatten zu Hause einen Hund, und der bellte sehr laut. Es kamen deutsche Soldaten ins Haus und wollten Mutter mitnehmen. Da Mutter ein dreimonatiges Kind im Arm trug und dazu noch zwei Kleinkinder hatte, haben sie nicht sie mitgenommen, sondern mich zusammen mit anderen Mädchen zwangsweise auf ein Auto verladen. Das Auto wurde vollgeladen und zum Zug gebracht (natürlich in der Kleidung, die ich anhatte). 24 Stunden stand der Zug auf der Station. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie viele Güterwagen beladen wurden. Es ist sehr schwer zu beschreiben, was damals im Zug vor sich ging, wie viele Tränen, Schreie, Wimmern. Wer zu fliehen versuchte, wurde gleich erschossen, wer sehr laut schrie, der wurde ausgepeitscht. Der Zug fuhr sehr schnell, ohne anzuhalten, wie viele Tage, kann ich mich nicht erinnern. In Belostok war der erste Halt. Dort haben wir alle eine medizinische Untersuchung durchlaufen. Wir wurden nackt ausgezogen, unsere Sachen in die Desinfektionskammer gebracht, und dann gingen wir im Gänsemarsch nackt zu den Ärzten, wo wir untersucht wurden. Ich weinte so sehr, ich schämte mich so, und es war peinlich, ich hatte Hunger, und dazu noch nackt und zu beiden Seiten standen deutsche Soldaten. Da ich so klein und schlank war, fast noch ein Kind, fiel ich in Ohnmacht. Ich erinnere mich nicht daran, wie das alles passierte.

III. Danach zogen wir einen blauen Arbeitsanzug an, und auf dem Rücken standen drei Buchstaben: OST. Und dann wieder in einen Zug und bis Berlin. Vom Bahnhof in Berlin gingen wir zu Fuß in Viererreihen, bewacht wurden wir von einer sehr bösen Aufseherin mit Peitsche, die nicht wie eine Frau aussah, eher wie ein Mann. Ich habe etwas vergessen, was in Belostok passiert war. In Belostok haben wir nach der Untersuchung gegessen, ich erinnere mich nicht, was es war, aber einigen Menschen ging es danach schlecht. Aber da ich sehr langsam aß und nicht alles aufgegessen habe, bin ich dem entgangen. Wir gingen barfuß, und die Passanten sahen uns mitleidig an, und die alten Frauen hatten sogar Tränen in den Augen. Wir gingen bis zur Friedrichstraße, und dann sahen wir ein Lager, das mit Stacheldraht eingezäunt war. Wir wurden in eine Baracke gebracht, dort gab es dreistöckige Holzpritschen, Strohmatratzen, und die Decken waren dünn und grau. Da übernachteten wir, und morgens früh bekamen wir Holzpantinen und los an die Arbeit. Wir wurden in Gruppen zu 20 Menschen von einer auch sehr bösen Aufseherin zum Werk geführt. Ich erinnere mich daran, dass mir die Holzpantinen zu groß waren und ich mir die Füße aufgerieben habe, und ich war ein wenig hinter der Kolonne zurückgeblieben. Und dann hat sie mich mit der Peitsche geschlagen, und ich kam sehr verweint an meinem Arbeitsplatz an (Verzeihung, ich schreibe mit Fehlern und nicht so sauber, bin sehr angegriffen). Ich arbeitete in einem Werk, in dem Tischwaagen mit Zifferblättern zusammengesetzt wurden. Der Meister war ein sehr guter Mensch. Er war damals 45 Jahre alt, und lebt wahrscheinlich nicht mehr. Er hieß xxxx. Er hatte 10 Mädchen unter sich, aber ich war die unerfahrenste, und mein Arbeitsplatz war direkt neben ihm. Er hatte Mitleid mit mir, und dann hat er allmählich auf Russisch das Wort "Iss!" gelernt, und jeden Morgen gab er mir ein belegtes Brot und sagte "Iss!", aber er gab es mir natürlich auf eine Weise, dass die anderen es nicht sahen, er dachte sich z.B. aus "Hol ein Ersatzteil!" usw.
Im Werk gab es eine Kantine, das Essen war schlecht, besonders erinnere ich mich an eine Suppe mit Steckrüben, von Anfang an konnte ich das nicht essen, bei uns in der Heimat gab es so etwas damals nicht. Ich war ganz erschöpft, und unterwegs bekam ich oft von der Aufseherin etwas ab.

Es war sehr schwer und qualvoll fast ein ganzes Jahr lang. Ich erinnere mich, es gab Holzpritschen, die Wanzen nisteten sich ein. Sie vermehrten sich in einer solchen Menge, dass wir nicht schlafen konnten. Unterwegs bekam ich dann auch noch was ab. Dann wurde eine Desinfizierung durchgeführt, während alle mit ihren Matratzen unter freiem Himmel schlafen mussten. Es war Herbst, sehr kalt und feucht, und ich erkältete mich und habe sehr gehustet. Ich hatte eine Lungenentzündung bekommen. Mir wurden Pillen gegeben, und ich weiß nicht, was noch, aber ich ging zur Arbeit, und mein Meister hat mich auf die Beine gebracht. Er brachte Tee usw. Im Lager gab es eine Sanitätsstelle, einen Arzt. Ich begann meine Arbeit zu lieben, ich arbeitete ohne Pause, außer Mittagessen. Wer gut arbeitete, bekam Geld; ich erinnere mich nicht, wie viel, und dann ein Passierschein für sieben Stunden nach Berlin. Ich wurde schließlich kräftiger, war schon groß geworden und wurde ein normales Fräulein, und sogar hübsch. Das hat mir der Meister gesagt, besonders haben ihm meine blauen Augen mit den langen Wimpern gefallen (übrigens sind sie bis heute fast so geblieben). In der Stadt konnten wir etwas kaufen, etwas zu essen, Bekleidung usw.
Jetzt antworte ich auf Ihre Fragen: Wie das alles vor sich ging, habe ich geschrieben. Ich wurde in Krolewez, im Sumskaja-Gebiet, am 13. September 1926 geboren. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich nach Deutschland verschleppt wurde. Ich hatte sieben Klassen abgeschlossen. Familie hatte ich nicht, d.h. meine eigene. Die Eltern sind schon vor zwanzig Jahren gestorben. Wie mein Betrieb hieß, habe ich schon vergessen, und was ich hergestellt habe, habe ich schon geschrieben. Das Verhalten uns gegenüber war nicht schlecht, es wurde Geld bezahlt. Man arbeitete 12 Stunden täglich und hatte einen freien Tag. Es war nicht erlaubt Briefe zu schreiben, und das Lager war in der Friedrichstraße, wie das Lager hieß, kann ich mich nicht erinnern. Die Ernährung war schlecht, aber es war nicht so schrecklich, da wir Geld hatten und zu essen kaufen konnten. Ich war sehr bescheiden und schüchtern. Ich war mit niemandem befreundet. Außer wenn ich einen Passierschein bekam mit meiner Bettnachbarin, dann gingen wir zu zweit. Jetzt will ich den Brief beenden. Ich bin sehr angegriffen, meine Befreiung und mein weiteres Leben beschreibe ich im nächsten Brief.
Auf Wiedersehen! Entschuldigen Sie die Ungereimtheit meines Briefes. Meine Adresse ist richtig. Schreiben Sie!

Fortsetzung: Ich wollte im nächsten Brief schreiben, aber da der Umschlag mit Briefmarke drei Griwna kostet, habe ich mich entschieden, Ihnen den Brief in einem Umschlag zu schicken. Ich beschreibe kurz meine Befreiung. Es war so. Auf der einen Seite, wo sich mein Lager befand, waren die Deutschen, und auf der anderen Seite waren die sowjetischen Truppen. Die Deutschen wussten vermutlich schon, dass das Ende nahte und entdeckten die Baracken (?). Jeden Tag gab es Geschrei und Brände. Alle Baracken waren ausgebrannt, es waren nur zwei geblieben. Dann sprachen wir davon, dass in diesen Baracken Menschen übriggeblieben waren, deren Schicksal es war, weiterzuleben. Wir wurden auf dem Fluss Oder auf Booten transportiert. Die deutschen Flugzeuge haben Bomben geworfen, sie trafen selbstverständlich die Boote, und die Menschen wurden getötet. Aber mein Schicksal war es zu leben, und ich bin am Leben geblieben. Am 22.April 1945 wurde ich befreit. Die Überprüfung war in Frankfurt/Oder, PFP Nr.232, im August 1945. Den Tag des Sieges feierte ich in diesem Truppenteil, d.h. am 9. Mai 1945. Was damals passierte, die Freude, der Gesang usw., das ist nicht zu beschreiben. Direkt auf der Straße wurden Tische aufgebaut, es gab Wodka, Wein, unterschiedliche Vor- und Nachspeisen. Ich hatte zum ersten Mal getrunken, und mir war schlecht, und ich war besinnungslos. Ich kam im Krankenhaus wieder zu mir, wo mich ein Oberleutnant xxxxx, rettete, ein Feldscher. Die Nummer des Truppenteils weiß ich nicht mehr, und ich habe nichts aus dieser Zeit. Es ist nur die Erinnerung an Leonid geblieben, dass wir befreundet waren und heiraten wollten. Ich bekam Briefe von zu Hause und arbeitete in diesem Truppenteil. Einmal bekam ich einen schlimmen Brief von zu Hause, dass die Mutter krank war, dass Hunger herrschte usw. Und dann habe ich entschieden nach Hause zu fahren. Natürlich habe ich sehr viel mitgebracht, und ich habe die Familie auf die Beine gebracht, etwas haben wir verkauft, ich habe alle angezogen, und für mich habe ich nur einen Rock und eine Bluse gelassen. Natürlich war das Leben schwierig, wir wurden verachtet, ich konnte nirgends Arbeit finden, die einzige Rettung war für mich, die Briefe von diesem Menschen zu bekommen. Der letzte Brief war, ich weiß nicht wann, dass er zu mir fährt, aber er ist nicht gekommen, warum weiß ich nicht, was passiert ist, weiß ich bis heute nicht. Mir ist nichts übriggeblieben, als diese Stadt zu verlassen, und 1946 fuhr ich nach Kiew, wo ich die Kiewer Handelsfachschule besuchte und den Titel einer Oberverkäuferin erwarb. Ich wurde in die Westukraine geschickt, in die Stadt Rowno, um dort zu arbeiten, wo ich nun schon 50 Jahre lebe. Ich hatte viele Schwierigkeiten in meinem Leben. Ich habe geheiratet, habe zwei Kinder geboren. Alle möglichen Missgeschicke. Aber mit meiner Arbeit habe ich den Kindern auf die Beine geholfen. Der Mann war ein Militärangehöriger, er war sehr oft abwesend, und alles ruhte auf meinen Schultern. Der Sohn ist jetzt 48 Jahre alt, und er ist Major der Miliz. Er ist schon Rentner. Verheiratet, hat Frau und Tochter. Ich wohne mit der Tochter, dem Schwiegersohn und zwei Enkeln zusammen in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Die ganze Zeit ging es uns einigermaßen, ich arbeitete bis 1990, obwohl ich seit 1983 schon Rentnerin war. Heutzutage ist das Leben bei uns in der Ukraine sehr, sehr schwer. Ich bekomme eine Rente von xxxxx, die Tochter xxxxx und der Schwiegersohn bekommt schon 9 Monate lang keinen Lohn. So ein Durcheinander, wie es jetzt bei uns herrscht, gibt es in keinem anderen Land. Der Enkel kam von der Armee zurück, kann nirgends Arbeit finden. Business kann er nicht machen. Das war kurz zu meinem heutigen Leben. Am 13. September werde ich schon 71. Die Gesundheit ist nicht so gut, einen Haufen Krankheiten habe ich, ich bin xxxxx, habe ein xxxxx und dazu die Not in der Familie. Entschuldigung wegen meines Freimutes, aber es ist kränkend für mich, dass fremde Leute sich um mich kümmern, und im eigenen Land hat man nicht an die Menschen gedacht, die so viel durchgemacht haben.
Vielen Dank an die deutsche Regierung, und natürlich an unsere. 1995 habe ich xxxxx Mark bekommen, das war eine große Hilfe für meine Familie. Rente bekomme ich jetzt xxxxx Griwna mehr. Die Mehrheit der Rentner bekommt xxxxx Griwna. Ich schicke Ihnen den Brief später, da ich am 19. Rente bekomme. Dann kaufe ich mir einen Umschlag und schicke Ihnen den Brief. Die Anschrift und der Familienname sind richtig. Schreiben Sie an diese Adresse: xxxxx
Entschuldigen Sie die Ungereimtheit meines Briefes, ich rege mich sehr auf und weine.
Mit Hochachtung Ihnen gegenüber, Gisela!
Ich küsse Sie. xxxxx. 18.08.1997, Rowno.



Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

  • 1 von 6 Seiten
  • 2 von 6 Seiten
  • 3 von 6 Seiten
  • 4 von 6 Seiten
  • 5 von 6 Seiten
  • 6 von 6 Seiten
DZSW 1298
Kurzbeschreibung

Mit gerade 15 Jahren wurde Nadeshda J. Z. 1941 nach Berlin zwangsweise verschleppt. Sie war in einer Werkstatt tätig. Aufgrund ihrer schmächtigen Gestalt hatten Menschen mit ihr Mitleid und unterstützten sie. Trotz einer schweren Lungenentzündung sollte sie zur Arbeit gehen.

 

Herkunftsland: Ukraine

Geburtsjahr: 1926

 

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt