Abschrift: xxxxx
Jhrg. 1927
xxxxx
Ukraine
Geehrte Gisela Wenzel!
Ich habe Ihren Brief erhalten und versuche, auf Ihre Fragen Antwort zu geben.
Ich wurde am 2.4.1927 im Dorf Melniki, Tschernobajewski-Rayon, Tscherkasskaja Oblast, geboren. Im Alter von 15 Jahren wurde ich zwangsweise verschleppt. Das passierte Ende Januar 1943. Ich wurde auf betrügerische Weise gezwungen, vor einer ärztlichen Kommission zu erscheinen, wurde in der Schule eingesperrt und drei Tage ohne Essen und Wasser hinter Schloss und Riegel gehalten. Danach wurde ich am 28.1.1943 unter Bewachung zur Station in die Stadt Solotoscha gebracht und in einen Güterwaggon eingeladen. Es war ein sehr harter und schneereicher Winter. Unterwegs haben wir viel durchgemacht, die Menschen wurden krank und sind gestorben. Drei Tage blieben wir in Kiew. Die ganze Zeit über haben wir schlecht gegessen (nur in Kiew bekamen wir ein bisschen Brot mit Hirse und Margarine, die Männer Sprit).
In Kiew wurden wir alle zusammen in einem riesigen Gebäude untergebracht, und hierher kamen die deutschen Herren und wählten sich die Arbeiter aus. Die Aufseher gingen mit den Menschen sehr grob um, prügelten sie.
Von Kiew aus wurden wir in Güterwaggons nach Peremyschl gebracht, wieder ärztliche Kommissionen, wieder Prügel, aber wir bekamen etwas warme Balanda (Suppe). Danach wurden wir weiter nach Berlin gebracht.
Zu dieser Zeit, d.h. vor dem Krieg, hatte ich es geschafft, fünf Klassen abzuschließen, ich habe in der Dorfschule gelernt und lernte gut. Ich hatte eine Familie: Eltern, einen jüngeren Bruder und eine Schwester. Die Schwester starb während der Besatzung. Es gab noch einen älteren Bruder, er war das leibliche Kind des Vaters, der an der Front ums Leben kam.
In Berlin wieder eine ärztliche Kommission, Sortierung der Menschen, wir wurden verteilt und zu verschiedenen Plätzen weggebracht. Ich landete in einem Lager, dessen Adresse lautete: Berlin-Köpenick, Gemeinschaftslager 306/322. Wir wohnten in Baracken, die mit Sperrholz in kleine Käfige unterteilt waren. In jedem waren 20-25 Menschen. Wir schliefen auf Pritschen, Strohmatratzen, ein Kissen und eine dünne Decke. Das Essen war sehr schlecht. Um 4 Uhr morgens bei der Beladung auf den Schleppkahn (zur Arbeit gebracht) bekamen wir ein Stückchen Brot, zum Mittagessen im Werk eine dünne Suppe (Balanda) und spät abends, schon im Lager, wieder Suppe, es war schwer zu sagen, woraus sie zubereitet wurde: gekochtes Kraut und nie war eine Kartoffel dabei. Das Regime war sehr hart. Für ein geringfügiges Vergehen, sogar unverschuldet, wurde die Peitsche eingesetzt, der Kommandant des Lagers und die Aufseher gingen mit den Menschen wie mit Vieh um.
Vom Lager wurden wir zur Arbeit mit einem Schleppkahn über den Fluss transportiert.
Das Werk lag in Berlin, wie das gefertigte Produkt hieß, wusste ich nicht, aber ich musste Draht auf Spulen wickeln. Ich erinnere mich daran, dass das Werk "AEG" hieß, die Werksabteilung DKZ. Wir mussten 8-12 Stunden täglich arbeiten, in Tag-und Nachtschichten. Im Werk ging man mit uns nicht schlecht um. Wir wurden je nach der Arbeit bezahlt, bis xxxxx monatlich. Für dieses Geld konnte wenig kaufen und nur das, was zum Werk geliefert wurde.
Als nach einem Bombenangriff unser Lager ausgebrannt war, wurden wir in ein anderes gebracht, das im Wald lag (an den Namen erinnere ich mich nicht). Zur Arbeit wurden wir wieder mit dem Schleppkahn gebracht. Hier waren die Lebensbedingungen ein bisschen besser, das Essen war ergänzt: Margarine, manchmal Marmelade und in der Suppe Kartoffeln. Das Verhalten uns gegenüber war in diesem Lager nicht so unbarmherzig.
In der Freizeit hatten wir nur einen Zeitvertreib: wir suchten auf dem Müllplatz etwas Essen, bis es dunkel wurde, die Abfälle haben wir zum Kochen benutzt.
Angezogen waren wir sehr schlecht. Wir hatten die Kleidung, in der wir von zu Hause weggebracht worden waren. Seit dieser Zeit war sie schon abgenutzt, Neues bekamen wir nicht.
Es gab Ärzte im Werk und im Lager. Die Ärzte waren verschieden und behandelten uns unterschiedlich. Als meine Hände krank waren, sie waren geschwollen, sagte der Werksarzt, dass ich simuliere, und ich wurde hinter Schloss und Riegel gesetzt, aber am zweiten Tag wurde ich ins Lager gebracht und dort behandelt. Viele Menschen wurden krank und starben.
Es war erlaubt, uneingeschränkt Briefe in die Heimat zu schreiben. Es war gestattet, Päckchen bis zu 250 Gramm von den Verwandten zu bekommen.
Kontakte mit der deutschen Bevölkerung hatten wir nicht. Bei der Arbeit waren sehr wenig Deutsche, und meistens Arbeiter aus anderen Ländern (Italiener, Polen, Franzosen).
Eine der deutschen Frauen hat die ganze Zeit geweint und gesagt "Krieg kaputt" (woina kaput), ihr Mann war an der Front ums Leben gekommen. An den Namen und Familiennamen kann ich mich nicht erinnern.
Als ich in dem anderen Lager lebte, war es erlaubt, in die Stadt zu fahren. Damals bin ich durch ganz Berlin gefahren, ich war in der U-Bahn, im Park. Damals hatte ich die Möglichkeit, etwas Nahrung und Kleidung zu kaufen.
Von dem ganzen damaligen Leben haben sich am meisten das Hungergefühl und die Angst vor Bombenangriffen eingeprägt. In der letzten Zeit wurde fast jeden Tag bombardiert. Wir wurden am 26. April 1945 von den russischen Truppen befreit. Nach der Befreiung landete ich krank im Hospital zur Behandlung. Nach der Genesung arbeitete ich im Hospital, und Ende Oktober 1945 kam ich nach Hause.
Nach dem Krieg habe ich geheiratet, ich lebte und lebe im Dorf Krutki, das neben meinem Heimatdorf liegt. Der Mann ist gestorben, Kinder gibt es nicht, ich wohne allein. Von Kindheit an bin ich nicht gesund, ich bin ständig krank.
Der Brief ist sehr kurz. Alles, was ich erlebt habe, kann man nicht auf dem Papier beschreiben, und ich kann es sowieso nicht. Auf meine Bitte hin schreiben die Verwandten.
Ich möchte nur sagen, dass ich in Deutschland das erlebt habe, was ich einem Feind nicht wünschen würde.
Mit Hochachtung: xxxxx
Am Rand auf Ukrainisch: Verzeihung, dass ich mich mit meiner Antwort verspätet habe. Ich war sehr krank, die Nachbarin hat geschrieben, die Beine tun weh, ich konnte den Brief nicht zur Post bringen. Kommen Sie zu Besuch in die Ukraine!
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt
Die Ukrainerin Anna S. L. wurde im Mai 1942 festgenommen und im Güterzug nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt, wo sie bei AEG gearbeitet hat. Häufig machte sie sich in ihrer Freizeit auf die Suche nach Lebensmitteln.
Herkunftsland: Ukraine
Geburtsjahr: 1924
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt
© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt
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