Abschrift: xxxxx
Jhrg. 1927
xxxxx
Belorußland



Geehrte Frau Gisela Wenzel!


Ihnen schreibt xxxxx. Als ich Ihren Brief bekommen habe, war ich sehr erstaunt, weil auf dem Umschlag ein Stempel von Berlin war. Aber als ich den Brief gelesen habe, ist mir alles klar geworden. Obwohl es sehr schmerzhaft für mich war, Ihre Zusendung zu lesen. Mit der Zeit lässt alles im Gedächtnis nach, aber Sie haben mich zurückgeholt in die damaligen schweren und schrecklichen Jahre. Aber deshalb bin ich Ihnen nicht böse, umgekehrt, ich möchte Ihnen in dieser Sache helfen. Und jetzt möchte ich Ihnen über diese fernen Jahre erzählen.

Ich wurde 1927 im Dorf xxxxx, geboren. Ich lebte in einer Bauernfamilie, die für die damalige Zeit wohlhabend war. Die Familie war nicht sehr klein, acht Personen. Und so lebten wir vor uns hin, beschäftigten uns mit unseren friedlichen Dingen. Aber dann kam diese schreckliche Zeit, als der Krieg begann. Meine zwei Brüder wurden gleich an die Front geschickt, aber ich will anmerken, dass der Krieg 1939 begann, und unser damaliges Gebiet zu Polen gehörte. Einer meiner Brüder kam auch in Deutschland ums Leben, und der andere kam zurück, kam aber in schon friedlichen Zeiten ums Leben. Im Oktober 1943 kamen die Deutschen und die Polizei in unser Dorf. Der Dorfälteste suchte alle Häuser auf und rief alle Bewohner zur Versammlung. Und alle mussten eine Familienliste bei sich haben. Auf der Versammlung wurde die Auswahl derjenigen vorgenommen, die nach Deutschland fahren sollten. Und auf dieser Liste landete auch ich. In der Nacht, als ich abgeholt wurde, kamen SS-Leute und begannen ihre bestialischen Dinge zu treiben. Sie setzten die Dörfer mitsamt den Einwohnern in Flammen. Die Menschen wurden in die Scheune getrieben und verbrannt, und die Kinder wurden erschossen oder auf dem Bajonett aufgespießt. Aber meine Eltern blieben am Leben, da die SS-Leute in unserem Dorf Quartier nahmen. Und wir wurden inzwischen nach Scharkowschtschina gebracht und danach weiter in die Stadt Glubokoje. Da wurden wir in einen Güterzug verladen und nach Deutschland geschickt. Wir landeten in einer Verteilungsstelle, wie diese Ortschaft hieß, kann ich mich nicht erinnern. Und danach landete ich am letzten Punkt meiner Reise. Dieser Ort hieß Köpenick, Fromms-Gummiwerke. Wir wurden in einer Baracke untergebracht. Die Lebensverhältnisse waren schwer. Im Zimmer befanden sich etwa 20 - 30 Menschen, die Luft war sehr stickig, es war feucht. Am nächsten Tag wurden wir zur Arbeit getrieben. Ich arbeitete in der Fabrik, wo Präservative hergestellt wurden. Die Luft war sehr feucht und dumpf wegen der Gummidämpfe. Wir wurden zuerst so gefüttert: am frühen Morgen salziger Tee, mittags und abends Balanda und 100 Gramm Brot. Und später bekamen wir Essen nur zur Mittagszeit. Wir arbeiteten in zwei Schichten zu je acht Stunden. Es gab einen Meister in unserer Schicht, der sehr gutherzig war. Familiennamen und Vornamen kenne ich leider nicht. Er war etwa 35 Jahre alt und hatte einen 14-jährigen Sohn. Er war sehr gut, schrie uns nie an. Er verhielt sich zu uns wie zu Menschen. Manchmal brachte er sogar Stullen oder Brot mit. Wir nannten ihn den "grauen Meister", weil er einen grauen Kittel trug. Wenn er noch lebt, oder sein Sohn lebt, bin ich ihm sehr dankbar dafür, dass er uns geholfen hat, in der damaligen schrecklichen Zeit zu überleben. Es gab einen zweiten Meister, er trug einen gelben Kittel und wir nannten ihn den "gelben Meister". Das war ein echter Faschist, er ähnelte irgendwie Hitler und war ein sehr grausamer Mensch. Er verhielt sich uns gegenüber sehr schlecht, schrie uns ständig an und bestrafte uns. Die deutsche Bevölkerung verhielt sich uns gegenüber gut. Manchmal brachten sie Essen, Bekleidung und Schuhe. Uns wurde Lohn ausgezahlt, wir bekamen xxxxx, aber für dieses Geld konnten wir nur Salat aus Fröschen, Steckrüben, Postkarten kaufen und Fotos machen. Ich habe leider die Fotos aus der damaligen Zeit nicht aufbewahrt. Uns wurde ein Ausweis gegeben. Auf der Brust hatte jeder "OST", ohne das konnte man nicht hinaus in die Stadt. In der Freizeit gingen wir in die Stadt, wir halfen der deutschen Bevölkerung im Haushalt. Ich ging zu einer Deutschen, ich putzte, wusch, und die Frau gab mir dafür Mittagessen. Es gab im Werk einen Arzt, und wenn man krank war, wurde man behandelt, und wir waren oft krank. Meistens waren das Hautkrankheiten, alle möglichen Infektionen und eitrige Entzündungen vom Wasser und vom Dampf. Es war nicht verboten, Briefe in die Heimat zu schreiben, in der Kriegszeit war es aber unmöglich. In einem Jahr und acht Monaten meines Aufenthalts in der Unfreiheit bekam ich von zu Hause nur einen Brief. An die Stadt, in der ich lebte, kann ich mich sehr gut erinnern. Als die Front sich Köpenick näherte, wurde unsere Fabrik ausgebombt, und wir wohnten in einer anderen Stadt, die 7 Straßenbahnhaltestellen von Köpenick in Richtung der polnischen Grenze entfernt war. In dieser Stadt wohnte auch unser "grauer Meister". Da gab es auch dieselbe Fabrik, aber die war geschlossen. Wir fuhren nur nach Köpenick, um unsere Trockenration abzuholen. Am 20./21. April 1945 begann sich der Feuerschein über Köpenick zu vergrößern. Um Köpenick wurde gekämpft. Wir saßen in einem Bunker unter der Fabrik, über den Kopf donnerten Geschosse, und plötzlich hörten wir eine akzentfreie russische Stimme: "Russen rauskommen!" Wir hatten erst einmal Angst rauszukommen, dachten, es seien die Deutschen und sie wollen uns vernichten. Dann gingen die Männer raus, und wir hinter ihnen. Es waren unsere russischen Soldaten. Wir weinten vor Freude, küssten und umarmten sie. Sie wiesen uns an uns, ins Hinterland unserer Truppen zu gehen. Der Weg war sehr lang und schwer. Danach landeten wir in einem Sammelpunkt in der Stadt Wremen (?).

Dort gab es Vernehmungen, und wer die deutsche Sprache konnte, wurde gleich in den Zug verladen und ins Ungewisse verschickt. Dort lebten wir einen Monat lang. Wir bekamen da schon Essen. Und dann wurden uns Bescheinigungen gegeben, wir wurden in einen Güterzug verladen und nach Weißrußland geschickt. Ich kam in die weißrussische Stadt Mogiljow. Nach Hause kam ich nach zwei Monaten des Herumwanderns zurück, und überall gab es Vernehmungen und Vorladungen zum NKWD. In der Heimat wurden wir auf eine schwere Probe gestellt. Wir wurden verfolgt, 40 Jahre lang galten wir nicht als Menschen. Mehrmals wurden wir ins NKWD vorgeladen, wurden wieder und wieder vernommen.
Wenn Sie diese Zeilen lesen werden, könnte es sein, dass Sie den Eindruck bekommen, dass es damals für alle schwer und unser Leben erträglich war. Aber es war nicht so. Das Leben in der Unfreiheit war nicht nur schwer, sondern unerträglich.

Nach dem Krieg begann ich auf dem Lande zu arbeiten, danach habe ich geheiratet. Der Mann hatte gekämpft und wurde Invalide des Vaterländischen Krieges. Die ganze Zeit lebten wir schwer, mein Gesundheitszustand war sehr schlecht. Wir haben zwei Kinder und zwei Enkel. Der Mann starb 1994. Jetzt bin ich allein, ich wohne mit Sohn und Enkel zusammen. Jetzt haben wir eine schwierige Perestroika - Zeit, und es ist sehr schwer, mit dem Geld auszukommen, die Gesundheit ist auch schlecht, die überstandenen Jahre wirken sich aus.

Ich wäre sehr froh, wenn mein Brief Ihnen hilft, die Geschichte der Ostarbeiter zu schreiben. Wenn Sie sich noch für etwas interessieren, schreiben Sie mir, ich werde antworten. Es waren sehr viele Fragen. Ich möchte sie alle beantworten, aber es ist schwer, das ausführlich zu beschreiben. Ich möchte sehr gern, dass sie unseren gutmütigen "grauen Meister" oder seine Familie finden und ihm in meinem Namen und in dem von Menschen wie mir danken würden. Ich danke allen deutschen Menschen, die in der damaligen Zeit in der Fabrik gearbeitet haben für das gute Verhältnis uns gegenüber.

Sie können mich anrufen, unsere Telefonnummer: xxxxx

Natürlich ist es in einem Brief schwer, ein Jahr und acht Monate einer solchen schwierigen Prüfung in der Unfreiheit, die mir mit 16 Jahren auferlegt wurde, zu beschreiben. Aber mein Gedächtnis hat sehr vieles aufbewahrt, deswegen, wenn Sie eine solche Möglichkeit haben, kommen Sie zu mir. Ich erzähle Ihnen mehr. Es ist klar, dass das schwere Erinnerungen sind, aber die heutige Generation muss wissen, wie ihre Altersgenossen in den damaligen Kriegsjahren gelebt haben. Ich schicke Ihnen meine Nachkriegsfotos.

Auf Wiedersehen

Mit Hochachtung. Xxxxx.
28.8.97


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DZSW 1311
Kurzbeschreibung

Die Weißrussin Galina I.W. wurde im Oktober 1943 nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt, wo sie bei der Fabrik Fromms-Gummiwerke bei der Herstellung von Präservativen gearbeitet hat.

 

Herkunftsland: Belarus

Geburtsjahr: 1927

 

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Angaben zur Zwangsarbeit
Weitere Objekte

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