Abschrift: Übersetzung Brief 307
xxxxx
Jhrg. 1927
xxxxx
Ukraine

Guten Tag, geehrte Gisela Wenzel!


Ich bin Ihnen sehr dankbar für den Brief, den Sie mir geschickt haben. Sie haben recht, es ist bereits ein großer Zeitabschnitt vergangen. Es sind mehr als 55 Jahre vergangen, aber die Wunden und die Schmerzen sind noch nicht geheilt. Nur Gott weiß... Ich setze mich zum dritten Mal hin, um Ihnen einen Brief zu schreiben, da Sie um meine Erinnerungen an die Zeit bitten, als ich in Deutschland gewesen bin.

Sie schreiben, wie das alles passiert ist? Wann und wo ich geboren wurde? Wie alt ich war? Es ist so passiert: 1942 wurde den deutschen Soldaten ein Befehl gegeben, alle Juden, Komsomolzen, Kommunisten und Partisanen sollten sich stellen. Die Männer waren an die Front geholt worden, und die Frauen, Kinder und Ältere waren zu Hause geblieben. Die Tante, die zwei Kinder hatte, ein Junge 5 Jahre alt und der andere 7 Jahre alt, wurde verhaftet. Die Tante wurde verhaftet und von deutschen Soldaten erschossen, die Kinder hat meine Mutter bei sich untergebracht, obwohl es schon drei eigene gab und es nichts zu essen gab und sie Hunger hatten und es kalt war. Meine Mutter ging mit dem älteren Schwesterchen, sie nahmen sich einen Schlitten und gingen, um etwas einzutauschen. Wir blieben zu dritt zu Hause, dann kamen deutsche Soldaten, schrien "Judenkinder", schnappten uns, die zwei Brüderchen, einer 5 und der andere 7 Jahre alt und mich, 14 Jahre und drei Monate alt und reihten uns in eine Kolonne ein, luden uns in Güterwaggons. Und bis heute lässt mich das damalige Kindergeschrei nachts nicht ruhig schlafen. Ich erinnere mich, dass ich geschrien habe, "Ich bin kein Jude, ich bin Russin!" Die Tante war Jüdin, der Onkel ein Ukrainer.

Wo wurde ich geboren? Am 3. November 1927 in Charkow.
Wie alt war ich, als ich nach Deutschland verschleppt wurde? 14 Jahre und drei Monate alt.


Ob ich es geschafft habe, eine Schule abzuschließen? Natürlich nicht, sechs Klassen.
Ob ich damals eine Familie hatte, und was mit ihnen geschehen ist? Verwandte und Angehörige?
Der Vater und der Onkel fielen, die Tante wurde erschossen, drei Brüderchen kamen in Deutschland ums Leben. Zwei in Buchenwald, und einer kam nicht zurück, er war 17 Jahre alt, als er zur Zwangsarbeit überführt wurde, er kam nicht zurück.

In welchem Werk in Berlin ich gearbeitet habe? Bei der Gestapo am Alexanderplatz. Ich machte die Kaserne sauber, ich wurde aus der Zelle von einem Polizisten geholt, der führte uns, da war noch ein Mädchen, xxxxx aus Charkow.

Wie war unser Leben? Am frühen Morgen holte uns der Polizist, und abends brachte er uns in die Zelle. In der Zelle gab es Pritschen und ein Spind. Wir machten verschiedene Arbeiten.

Im Berliner Umland gab es ein Lager Köpenick oder Kokonik, aus dem wir flohen. Wir wurden morgens früh mit dem Schiff zur Arbeit gebracht, in einer Kolonne getrieben und weiterverteilt. Unser Platz war im Laderaum, und wir wurden "russische Schweine" genannt, aber das war auch so. Wir wohnten wirklich wie die Schweine. Im Lager gab es zweistöckige Pritschen, mit Stroh ausgestopfte Matratzen und mehr nicht. Unsere Anlegestelle kam, und jemand schrie Lepastraße (?). Was für ein Werk das war, wusste ich nicht. Keiner hat uns das gesagt. Mit uns war es nicht erlaubt zu sprechen. Ich erinnere mich an einen Meister, Herrn xxxxx (?), er nannte mich "Knubiduli" (Knuddelchen ?), ich war klein damals. Wir machten nach Zeichnungen auf einem Brett Kabel für Flugzeuge und U-Boote. Es arbeiteten deutsche Juden, und von uns 12 Leute. Es war nicht erlaubt, uns zu unterhalten.

Wie viel wurde uns bezahlt? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir irgendetwas bekommen haben.

Eben von diesem Lager aus flohen wir und landeten bei der Gestapo. Dieses Lager war in Brandenburg in der Nähe Berlins. Und mein Bruder, der 17 Jahre alt war, war auch irgendwo dort.

Wie das Essen war? Spinat mit Würmern, manchmal Steckrüben. Es war für uns ein Feiertag, wenn wir eine süße Brotsuppe bekamen, dann leckten wir die Näpfe aus. Es wurde ein kleines Stückchen Brot gegeben.

Ob ich Briefe bekam? Nein.

Ob es Ärzte gab? Wir retteten und behandelten uns selbst, so gut wir konnten.
Welche Beziehungen es mit der deutschen Bevölkerung gab? Ja, es gab gute Menschen, die deutschen Frauen. Manchmal ging man zur Toilette und hinter das Waschbecken steckte irgendjemand irgendetwas, damit keiner es sah, da sie selbst Angst hatten. Es waren deutsche Juden, während wir arbeiteten. Ich vergesse nie den Menschen, der uns zur Arbeit zur Gestapo am Alexanderplatz begleitete. Ich bin ihm sehr dankbar, und wenn er noch am Leben ist, möchte ich mich vor ihm verneigen im Namen von zwei russischen Mädchen, die er gefüttert hat wie seine eigenen Kinder. Er begleitete uns zur Gestapo in die Kaserne, gab uns Essen, obwohl es nur Reste waren, aber erst hat er uns zu essen gegeben, und dann wurde gearbeitet. Er hatte natürlich Angst, dass jemand es sah. Abends führte er uns in die Zelle, nahm sein belegtes Brot, teilte es und gab es uns. Was für ein Mensch das war, ist für mich nie zu vergessen. Wenn er gefunden werden könnte... Vielleicht hat er seinen Kindern von uns erzählt. Ich würde ihn bis ans Ende seiner Tage pflegen, er hat uns doch gerettet. Wenn er nicht gewesen wäre, wären wir zurück ins Lager gekommen. Wenn er immer noch lebt, gebe Gott ihm Gesundheit, und überhaupt, ich stelle mir das nicht vor ... Ja, noch etwas habe ich behalten. Es gab so einen kleinen, etwas buckligen Menschen, irgendeinen Chef bei der Gestapo am Alexanderplatz in Berlin. Wir wurden eskortiert, und wir wuschen und machten sauber.

Wie wurden wir befreit? Die sowjetischen Truppen haben uns befreit.
Wie lebte ich nach der Befreiung? Sie wissen, wie schwer es für uns war.
Wie lebe ich heute? Jetzt bin ich Rentner, Behinderte zweiten Grades, bekomme eine kleine Rente.

Ob ich Briefe und Fotos aus den damaligen Jahren habe? Ja, habe ich. Ich habe ein Foto aus Buchenwald. Eins von der Gestapo (?) nach der Befreiung. Auf den Fotos sind Mädchen, aber ich weiß nicht, wie ihr weiteres Schicksal sich gestaltet hat. Viele sind bereits nicht mehr am Leben. Wie viel möchte ich Ihnen schreiben! In diesem Jahr hat unsere Regierung, Präsident Kutschma, uns minderjährige Kinder mit Kämpfern gleichgestellt, gab uns etwas zur Rente dazu. Ich bekam xxxxx und jetzt xxxxx. Oh Gott, wie viel Leid haben die minderjährigen Kinder durchgemacht. Ich erinnere mich, wir kamen an, die Köpfe wurden rasiert, wir zogen Holzpantinen an, auf den Rücken bekam ich die xxxxx, eiserne Näpfe wurden uns gegeben, wir wurden in einer Reihe aufgestellt und in die Kantine. Und da stand eine Aufseherin, und ich stolperte mit den Pantinen über die Schwelle, und sie hat mich so geschlagen, es blieb eine Narbe am Kopf. Im Lager Dachau (?), als ich meine Brüder suchte, mein Gott, ich kann Ihnen nicht alles beschreiben, es gab solche Öfen-Kessel, wo menschliche Körper verbrannt wurden, eine Wand, wo man erschossen wurde, völlig mit Kugeln durchsiebt. Auf den Tragen lag ein Junge, der noch nicht verbrannt war. Aber wie viel möchte ich Ihnen beschreiben! Wenn Sie meinen Brief bekommen, lesen Sie ihn. Jetzt wurde mir gesagt, dass ich von Deutschland ein Dossier brauche, damit ich als politische Gefangene gelte, aber woher bekomme ich das? Sehen Sie, Sie haben in der Liste meinen Familienname doch gefunden xxxxx Irgendwie wird den Menschen von Deutschland geholfen, aber ich habe mich entschieden, es gibt keine Wahrheit auf der Welt, und wie viel bleibt einem einsamen Menschen schon noch zu leben! In diesem Jahr werde ich am 3. November schon 70 Jahre alt, bald ist es Zeit zu sterben.

Auf Wiedersehen.


Mit Hochachtung Ihnen gegenüber xxxxx


Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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DZSW 1288
Kurzbeschreibung

Raissa D. S. wurde 1927 in der Ukraine geboren. Sie wurde im Mai 1942 festgenommen und als 14-jährige von zu Hause in Abwesenheit der Mutter mit zwei minderjährigen Cousins nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt. Bei einem Fluchtversuch wurde sie festgenommen und landete bei der Gestapo.

 

Herkunftsland: Ukraine

Geburtsjahr: 1927

 

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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