Abschrift: Übersetzung Brief 335

xxxxx (Schwester Garkawa, Raissa Wassiljewna)
Jhrg. 1925 (verstorben 1991)
Adresse der Schwester:
xxxxx
Ukraine



Geehrte Gisela Wenzel!

Wir haben Ihren Brief, den Sie uns am 30.7. 1997 geschrieben haben, am 2.8.1997 erhalten. Er war adressiert auf den Namen von xxxxx. Leider ist sie bereits am 20.12.1991 verstorben. Ich bin aber ihre Schwester, habe neben ihr gewohnt im Laufe ihrer gesamten, nicht leichten Jahre. Nach ihren Erzählungen werde ich Ihnen mindestens ein wenig beschreiben.

xxxxx wurde am 6.5.1925 im Dorf Jelisawetowka geboren. Sie hatte 1940 sieben Klassen abgeschlossen. Sie bewarb sich am Medizinischen Technikum in der Stadt Dneprodsershinsk. Hat aber die Aufnahmebedingungen nicht erfüllt. Sie hatte vor, sich im nächsten Jahr, 1941, zu bewerben, aber 1941 brach der Krieg aus. Deutschland hat unsere Hauptstadt Kiew bombardiert und hat alle unsere Pläne zerstört. Im Jahre 1942, am 15.12., wurde xxxxx zwangsweise nach Deutschland verschleppt. Familie hatte sie nicht, sie war 17 Jahre alt, bei uns hielt man das für minderjährig. Die Eltern: der Vater xxxxx, geboren 1905. Er war an der Front und kam am Kursker Bogen im Jahre 1943 am 16.5. ums Leben. Wir befanden uns zu der Zeit auf dem okkupierten Territorium und wussten nichts von ihm. Die Mutter xxxxx, 1.10.1902. Ich bin die Schwester von xxxxx - xxxxx 15.3.1930.

Der Vater war an der Front. Polina, einem schutzlosen Mädchen von 17 Jahren, hat man eine Benachrichtigung gebracht, man schicke sie nach Deutschland. Das war im Winter. Kälte, der 15.12.1942. Wir brachten sie zum Sammelpunkt im Zentrum des Dorfes, und dort auf Pferdewagen und zur Station in Dnepropetrowsk. Aber unterwegs ist sie geflüchtet und begann sich bei der Verwandtschaft am Rande des Dorfes zu verstecken, fünf Kilometer weg. Danach begannen die Polizisten aber nach ihr zu suchen. Einmal kamen sie in der Nacht. Ich war zwölf Jahre alt. Mama lag krank darnieder. Sie haben mich in den Flur gerufen und begannen zu fragen, wo sich Polina verstecke. Wenn ich es sagte, gäben sie mir eine Menge Bonbons. Ich habe geantwortet, wir hätten sie ins Zentrum des Dorfes gebracht, und danach hätte ich sie nicht mehr gesehen. Und Mama war sehr tief beunruhigt, dass ich es ihnen sagen würde. Aber sie hatte sich versteckt, aber später hat man die anderen gefunden und sie auch. Und dann, in den letzten Tagen, am 29.12.1942, haben wir die Schwester Polina wieder weggebracht. Als sie von Deutschland heimgekehrt war, hat sie erzählt, dass sie alle Geflüchteten zur Station gebracht, sie in Waggons eingeladen, die Türen mit Holzklötzen zugesperrt und erst in Deutschland aufgemacht haben Und in Berlin begann die Quälerei für sie. Zu Essen hat man Suppe mit Steckrüben gegeben, und jede Grütze war mit Würmern. Zuerst hat sie im Winter barfuß den Zementfußboden in irgendeiner Einrichtung gewaschen. Dann hat sie in der Nacht in einer Fabrik gearbeitet, wo man Garn auf Spulen gewickelt hat. Die Beine hatte sie sich erkältet, sie begannen zu schmerzen. Da begann auch die Knochen-Tuberkulose. Es gab viel Schlimmes, niemand hat Rücksicht auf sie genommen. Als sich aber die Russen Berlin näherten, begann man besser mit ihnen umzugehen (nach ihren Erzählungen/Erinnerungen). Einmal, als sie in der Nacht gearbeitet hat, ist sie eingeschlafen. Dann kam ihr Chef zu ihr und sagte: "Steh mal auf, Polina, die Spulen verheddern sich." Hat das menschlich gesagt, hat nicht geschrien. Sie hat diese Güte sofort bemerkt. Ja! Mit ihr zusammen waren Mädchen aus unserem Dorf: xxxxx. Sie haben in Baracken gelebt. Man begann diese Baracken häufig zu bombardieren. Na ja, während eines Baracken kehrte xxxxx, in die Baracke zurück, um ein Bündel mit Klamotten zu holen. Die Bombe fiel auf die Baracke, und xxxxx kam ums Leben, und xxxxx, kam aus Deutschland heim, hat im Dorf gelebt, es ist aber schon zehn Jahre her, dass sie verstorben ist. Also gibt es niemanden, den man ausführlich ausfragen könnte. Polina war die ganze Zeit in Berlin. Man hat ihr erlaubt, dass wir ihr Päckchen von 250 Gramm schicken konnten, Graupen, Fladen. So haben wir ihr 280 Päckchen geschickt. Sie war sehr froh, das war eine Hilfe für sie, und sie hat die Steckrübensuppe verweigert. Die Päckchen habe ich mit folgender Adresse beschrieben: Berlin, Lager Vogel (?), das weitere habe ich vergessen, es sind doch 53 Jahre vergangen. Nun aber hat es Gott so gefügt, dass Polina deutsche Evangelisten kennenlernte. Sie begann dort fest zu glauben, hat am 16.7.1944 in Berlin die Taufe erhalten. Die gläubigen Evangelisten haben ihr geholfen nach Deutschen zu suchen, bei denen man in den Wohnungen saubermachen konnte. So hat sie an den freien Tagen saubergemacht, und man hat sie bezahlt, obwohl nur Krümelchen. Aber sie hatte etwas, sich zu ernähren. Es gibt ein Foto, wie sie sich taufen ließ, aber von einem sehr kleinen Format. Es gibt Fotos aus Deutschland, aber alle sehr klein. Ich schicke Ihnen eines aus der deutschen Zeit, auf dem Polina ist, und ein zweites, wo sie bereits ohne Bein ist. Es ist mir sehr teuer, schicken Sie es mir bitte, wenn möglich, zurück. Und weil sie sich die Beine erkältet hatte, begann sie zu kränkeln und kam aus Deutschland (die Russen haben sie befreit) im Juli 1945 völlig krank zurück. Die Wunden begannen sich bei ihr zu öffnen, Fisteln neben dem Hals auf den Schlüselbeinen und auf einem Bein, dem linken. Und sie heilten nicht. Sie lag zwei Jahre lang immer wieder im Krankenhaus, und im Jahre 1947 hat man ihr das linke xxxxx. So lag sie im jungen Alter von 20 Jahren die ganze Zeit im Krankenhaus und mit 22 war das Mädchen ohne Bein und Invalidin. Das liest sich leicht, aber vor meinen Augen hat man die Schwester im blühenden Alter ohne Bein aus dem Operationssaal gebracht. Einen Vater gab es nicht. Und an unserem Leid trägt Deutschland die Schuld. Und da ist sie ohne Bein, Mama ist krank und ich musste arbeiten, mit Lernen war nichts. Wir lebten ohne Vater, und die Schwester war Invalidin. Und nach dem Krieg die Steuern, kaum bezahle ich sie am Jahresende, kommen schon neue. So lebten wir, so erging es uns. Aber sie hat nur immer erzählt, dass sie glücklich sei, weil sie eine echte Evangelistin war. Bis zu ihrem Tode hat sie 47 Jahre mit Gott verbracht, hat 133mal die Bibel gelesen. Verheiratet war sie nicht, die ganze Zeit an Krücken, von 1947 bis 1959. Danach bekam sie unerwartet noch Diabetes, sie hat nichts mehr gesehen, zwei Jahre lag sie. Sie hat im Radio von der Entschädigung für Deutschland gehört, wir haben die Dokumente bei irgendeiner Kooperative eingereicht, und Schweigen. Ich schreibe Ihnen den Brief und habe mich dabei an die Vergangenheit erinnert, wie bitter sie gewesen ist. Ihre Jugend wird das nicht begreifen, das muss man selbst erlebt haben. Mit 17 Jahren brachte man dich in ein fremdes Land, weg von den Verwandten, du warst vorher noch nirgendwo. In der Fremde herrschen Kälte, Hunger. Du arbeitest und man gibt dir Suppe mit Steckrüben und Würmern. Niemand hat Mitleid mit dir. Mama und alle Verwandten sind wer weiß wie weit entfernt. Barfuß hat sie die Fußböden gewaschen, und niemand kam zu ihr und sagte: "Kind, das darf man nicht machen." Und das ist das Resultat - eine Invalidin mit 22 Jahren. Vieles habe ich Ihnen nicht geschrieben, weil ich mich sehr deprimiert fühlte, nachdem ich mich an den Krieg erinnert hatte. Meine Adresse xxxxx

Auf den Fotos steht: xxxxx

xxxxx

xxxxx


Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

  • 1 von 2 Seiten
  • 2 von 2 Seiten
DZSW 1316
Kurzbeschreibung

Brief der Schwester von Pelageja W. N., die im Dezember 1942 zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Sie erkrankte in der Zeit schwer an der Knochen-Tuberkulose, was schließlich zu einer Amputation führte. In Deutschland ist sie zum evangelischen Glauben konvertiert und hat am 16. Juli 1944 in Berlin die Taufe erhalten.

 

Herkunftsland: Ukraine

Geburtsjahr: 1925

 

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt