Abschrift: Koszalin, den 17. 9.1997

Bittere Erinnerungen

Unter solchem Titel möchte ich Ihnen meine Erinnerungen und Erlebnisse aus der Zeit des 2. Weltkrieges weitergeben.

1940 wurde ich, zusammen mit meinem älteren Bruder und meiner jüngeren Schwestern, zur Zwangsarbeit nach Berlin verschleppt. (Ich war 17.) In Berlin hat man uns in irgendeinem Gebäude (vielleicht war das ein Krankenhaus) untergebracht. Dort waren bereits viele Menschen und andere kamen noch hinzu, verschleppt aus verschiedenen Teilen Polens. Man hat uns dort untersucht und uns Blutproben entnommen. Mir hat man sie nur einmal entnommen, dann wurde ich ohnmächtig. Später bekam ich Durchfall und man hat mir kein Blut mehr entnommen. Wir wurden dort etwa zwei Wochen gehalten; während dieser Zeit hat man anderen Frauen erneut Blutproben entnommen.

Dann wurden wir zum Arbeitsamt gefahren, wo auf uns unsere Arbeitgeber warteten. Mich, sowie zwei andere Mädchen, nahm Frau xxxx mit, zur Arbeit in der Gärtnerei. Es war eine große Gärtnerei, sie hatten viel Acker und Treibhäuser. Angebaut hat man hauptsächlich Gemüse, sogar im Winter, u.a. Rosenkohl und Wirsing. Es gab mehrere Menschen, die dort arbeiteten: vier polnische Jungen, zwei französische Sklaven, und uns Mädchen, etwa fünfzehn. Ich schreibe „etwa“, denn sie liefen ständig davon, aber nach einiger Zeit kehrten sie zurück, mit kahl geschorenen Köpfen xxxx xxxx war dermaßen hartnäckig, dass ich nicht weiß, ob sie einen nicht auch in der Hölle gefunden hätte. Es gab Vorschriften, hauptsächlich für die Polen laut deren man für den eigenmächtigen Arbeitswechsel sechs Wochen Lager bekam.
Der Name des Lagers: Wulhaide (Wuhlheide - Anm. d.Ü. ) ; vielleicht habe ich ihn falsch aufgeschrieben, aber so spricht man das aus. Es schauderte uns schon bei der Erwähnung dieses Lagers. Es war nicht nur die Strafe für den Fluchtversuch, sondern auch für andere Vergehen. Zum Beispiel: einmal schlief einer der Jungs im Treibhaus ein, und er wurde von dem Sohn xxxx geschlagen und getreten; dann holte er die Gestapo, so dass der Junge, als er zurückkam, sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ein anderes Mädchen erkrankte eines Nachts, sie hatte hohes Fieber. xxxx holte wieder die Gestapo und man nahm das Mädchen ins Lager mit. Uns sagte xxxx sie habe sie nach Hause geschickt. Nach sechs Wochen kehrte das Mädchen zurück (sie wurde verrückt).
Ich kehre noch einmal zu diesem Moment zurück, als wir bei Frau xxxx angelangten. Sie führte uns in einen etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum hinein, in dem bereits 12-14 Mädchen wohnten. Dort standen zweistöckige Betten, zwei Schränke, ein Tisch und irgendwelche Hocker. Sie warf uns graue Decken hin und sagte wir sollen uns zur Arbeit um 4 Uhr früh nicht verspäten. Wir waren hungrig, sie gab uns nichts zu essen. Am Abend des nächsten Tages brachte sie uns ein wenig verdünnten Quark.
Den ganzen Tag lag brachte man uns bei, wie wir arbeiten sollten. Wir mussten schnell lernen, denn sie schrien uns an und drohten uns. Überhaupt wurden wir immer angeschrien und ordinär beschimpft. Am dritten Tag gab uns Frau xxxx Globig Lebensmittelkarten und ein wenig Geld. Ich erinnere mich ganz genau an meinen ersten Einkauf, es war Brot, 1 Kilo (die Zuteilung für eine Woche), und ich schaffte nicht, es nach Hause zu bringen, ich aß es
unterwegs auf. Wir hatten eine Küche, denn wir kochten selber für uns. Wir bekamen von ihr Kartoffeln und Gemüse zugeteilt das sich für den Verkauf nicht mehr eignete. Wir waren ständig Hungrig. Am schlimmsten war, dass wir im Sommer 15-18 Stunden täglich arbeiteten. In der Mittagspause von 12 bis 13 Uhr brachte man uns vom Acker heim. Während dieser einen Stunde schaffte man nicht, etwas zu kochen, höchstens aufzuwärmen. Ich füge hinzu, dass dort eine Kochplatte mit sechs Kochstellen vorhanden war, die man mit Holz beheizte. Also kochten wir abends; abends wurde auch gewaschen, Waschen und Saubermachen, und fast jede Nacht Luftangriffe. Wir waren unausgeschlafen, erschöpft und hungrig.

Das Gemüse sammelten wir vor dem Sonnenaufgang, oft auch im Regen. Wenn es ein paar Tage lang regnete, wurden wir nie ganz trocken. Falls irgendeine krank wurde, ging das xxxx nichts an. Sie interessierte sich überhaupt nicht für unsere Gesundheit. Sie schrie uns ständig an und beschimpfte uns wie die letzten. Wir hatten Angst vor ihr, und noch mehr vor ihrem Sohn, einem Säufer, der für jedes Vergehen uns schlug und Tritte verpasste, besonders den Jungs.

Auf dem Acker arbeiteten wir in der Nähe von einer Sickergrube. Das war eine wahre Brutstätte für Mücken und Fliegen, die so giftig stachen, dass an diesen Stellen sich Eiterbeulen bildeten. Ich hatte Eiterbeulen auf dem ganzen Körper, bis heute sind die Narben geblieben. Zu allem Schlimmen bekamen wir auch Läuse und Krätze. Es war scheußlich. Ich war nahe dem Selbstmord. Eines der Mädchen schrieb an ihre Mutter nach Łódź und man schickte uns eine Salbe zu, mit der wir uns behandelten.

Im Jahre 1941 oder 1942 - ich weiß es nicht mehr - wurde der xxxx eingezogen. Ebenso schickte man ein paar ältere Mädchen zur Arbeit in der Fabrik. Dann starb plötzlich xxxx xxxx xxxx sie hat sich ein wenig beruhigt (sie war niedergeschlagen). Dieser Zustand dauerte aber nicht lange an, da der Sohn vom Militär zurückkehrte, um aufzupassen, wie diese polnischen Schweine arbeiteten. Als Ersatz für die Mädchen, die man ihr wegnahm, bekam Frau xxxx ein paar Russinnen. Dann brach die Hölle aus. Sie quälten sie auf eine raffinierte Weise. Diese wiederum kannten die Sprache nicht, sogar uns fiel es schwer, uns mit ihnen zu verständigen, denn sie kamen aus verschiedenen sowjetischen Republiken. Sie wurden in einer Scheune untergebracht, hatten keine Küche. Es gab nur einen Wäscheraum, wo ein Kessel stand. Und in diesem Kessel konnte man kochen. Dorthin warf man Kartoffeln, und das sollte das Essen für den ganzen Tag für die Russinnen sein, Sie xxxx gab ihnen weder Lebensmittelkarten noch Geld, und nichts zu essen. Das dauerte eine Weile an. Wir hatten Angst, etwas dagegen zu tun. Endlich schrieben wir eine anonyme Anzeige, so dass sie ihnen schließlich die Lebensmittelkarten gab, aber zum Kochen hatten sie nach wie vor keine Möglichkeit. Sie waren ausgehungert und schwach, sie konnten nicht arbeiten. Aber es gab eine Methode, sie zur Arbeit zu zwingen: Walter, ein Nazi, hatte einen dicken Knüppel und schlug mit ihm auf sie ein. Die 15jährige xxxx hatte immer blaue Flecken und Schwellungen.
Die xxxx hatten ein Dienstmädchen, eine Deutsche aus Schlesien. Sie verstand Polnisch. Man musste immer aufpassen, denn sie trug ihnen zu und wir wurden bestraft. Diese Schlesierin, mit dem Vornamen xxxx (ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr), war eine Geliebte xxxx xxxx. Sie hatten einen Sohn Horst, der 1942 geboren wurde.

Dort arbeitete ich bis 1943. Im Juni bin ich geflüchtet, mit einem deutschen Ausweis, den mir eine Deutsche polnischer Abstammung geliehen hatte. Und es ist mir gelungen! Mein weiteres Schicksal war ebenso wenig erfreulich, aber das war schon auf den polnischen Gebieten, und ich soll über Berlin schreiben.

Als ich aus Berlin floh, musste ich alle meine Papiere, Briefe und andere Erinnerungsstücke vernichten. Es ist nur ein Foto erhalten geblieben, das ich beifüge. Jeder, der als Zwangsarbeiter gearbeitet hatte und irgendwelche Dokumente besaß, bekam eine Entschädigung. Und ich kann nichts beweisen, Als die Deutschen eine bestimmte Summe für die vom 3. Reich Geschädigten ausgezahlt hatten, schrieb ich an alle Institutionen. Es kamen Antworten, dass es eine solche Person nicht gibt, dass sie auf keiner Liste steht.
Ich vermute, dass Frau xxxx und ihr Sohn irgendwie ihre Spuren verwischten, denn sie hatten zu viel auf dem Gewissen.

Ich möchte Ihnen noch schreiben, daß ich 1972 mit meinem Sohn im Berlin war. Ich wollte ihm zeigen, wo ich während des Krieges gearbeitet hatte. Und alles sah unverändert aus, der ganze Hof, das Haus, die Wirtschaftsgebäude, nichts wurde ausgebombt. Ich erfuhr, daß Frau xxxx zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, 1956 nach Westdeutschland ausgereist war. Und das Haus hat sie verkauft. Was xxxx betrifft: er wohnt in der Nähe, hat geheiratet (an seinen Namen kann ich mich nicht erinnern, er hieß nicht xxxx, er war der Sohn aus der ersten Ehe von Frau xxxx Sie hatte auch eine 21-22jährige Tochter Gerda, über die ich nichts schreibe, denn sie sprach mit uns nicht und nahm auch an der Dressur nicht teil.

Ich habe eine große Bitte. Vielleicht wäre jemand von Ihnen interessiert und würde mir helfen. Vielleicht könnte sich ein Weg finden, irgendwelche Dokumente zu erlangen. Ich lebe von dem Unterhalt meines Mannes, denn aufgrund meiner Gesundheit konnte ich nicht arbeiten. Ich verdiene zu Hause mit der Schneiderei ein wenig dazu, habe keine Rente. Für mich kommt es nicht in erster Linie auf das Geld an, sondern auf die Genugtuung. Ich bin 74 Jahre alt und habe keine großen Bedürfnisse, höchstens für die Medikamente.

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    Fotografie der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Helena S.: Arbeiterinnen der Gärtnerei "O.Globig"; (um 1943)

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DZSW 1364
Kurzbeschreibung

Brief der ehemaligen Zwangsarbeiterin Helena S., die im Alter von 17 Jahren gemeinsam mit ihren zwei Geschwistern zur Zwangsarbeit nach Berlin verschleppt wurde. Nach drei Jahren floh sie aus der Gärtnerei, in welcher die Zwangsarbeiter von den Besitzern unmenschlich behandelt wurden.

 

Herkunftsland: Polen

Geburtsjahr: 1923

Angaben zur Zwangsarbeit
Weitere Objekte

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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Fotografie der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Helena S.: Arbeiterinnen der Gärtnerei "O.Globig"; (um 1943)© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt