Abschrift: Xxxxx
Ukraine
Einen guten Tag unseren lieben Freunden, vielen Dank dafür, dass Ihr uns nicht vergessen habt. Vor allem teile ich mit, dass ich Ihren Brief bekommen habe, für den ich Ihnen dankbar bin. Ich habe Ihnen sehr umfangreich geantwortet, aber eine Antwort habe ich noch nicht bekommen, und jetzt schreibe ich von Neuem. Ich, xxxxx M.S., geboren 1924, habe in der Schule bis zum Krieg neun Klassen absolviert, weil es bei uns ein Gesetz gab, dass jeder verpflichtet war, entweder eine mittlere oder höhere Ausbildung zu haben. Ich wurde in der Familie des Bauern xxxxx, geboren. Ich habe eine Schwester, die 1943 auch nach Deutschland ins Dorf Zechlin, Gebiet Witten (?), zu xxxxx zur Arbeit verschleppt wurde. Man hat uns Mädels und Burschen am 20.Mai 1942 abgeholt und zu einem Lager gebracht, das mit dreifachem Stacheldraht umzäunt war. Das Lager befand sich am Fluss Spree, und als wir früh am Morgen rauskamen, war es Sonntag und man hat mit den Glocken zur Kirche gerufen. Auf der anderen Seite des Flusses war eine Kirche. Wir hatten den Glockenklang lange nicht gehört, weil wir die Kirche lange nicht besucht hatten. Es gab keine. Wir haben sehr geweint, und dann haben wir ein Klagelied gesungen: „ Oh, Kranich, warum schreist Du so früh? Wie kann ich nicht schreien, wenn ich so hoch fliegen muss. Ich bin hinter dem Schwarm zurückgeblieben, wie ein Stein am Wasser.“ Doch dann haben wir uns eingewöhnt. Man hat uns mit dem Schiff zur Arbeit gebracht. Ich habe dort gearbeitet, wo man Bretter in verschiedenen Größen für Kisten zu gesägt hat. Das war eine Abteilung des KWO. Der Direktor des Werkes kam vorbei, klein, mit krummem Rücken, grauhaarig. Wir haben niemanden gefragt und kannten unsere Meister nicht. Sie haben uns die Arbeit zugeteilt, und wir haben sie fleißig ausgeführt. Wir kannten ihre Familiennamen nicht und haben sie auch nicht danach gefragt. Am Lager entlang verlief eine Straße, etwas nach unten, die Wilhelminenhofstraße hieß.
Wir haben schlecht gelebt, immer wieder hat man bombardiert, zwei Mal hat das Lager gebrannt. Man hat uns zu einem anderen Lager gejagt, und die anderen zur Fabrik, die zerbombt wurde. Nur der Schornstein ragte hoch nach oben heraus. Freiwillig wollten wir nicht gehen, und man hat uns mit Hunden gejagt. Man hat uns in Güterwaggons zur Arbeit gefahren, oder unter Bewachung zu je 12 Mann mit dem Auto. Aber war man auch hungrig und barfüßig, man musste stehen, und wir haben spät mit der Arbeit Schluss gemacht und sind nicht früh zum Schlafen gekommen. Nach der säuerlichen Balanda mit Kohl mussten wir lange stöhnen, und nachdem wir die Balanda ohne Brot gegessen hatten, gingen wir hungrig wie zuvor schlafen. Und früh, noch vor dem Morgengrauen, hat die Polizei „Aufstehen!“ geschrien. So also haben wir gelebt. So etwas wünschen wir niemandem, weder unseren Kindern noch Euren. Wir wurden von der Roten Armee befreit. Danach wurden wir zu einem Truppenteil in die Stadt Stettin gebracht.
Man hat uns nach Deutschland verschleppt. Oh weh, Deutschland, Du bist doch groß, hast die ganze Jugend abgeholt und hast uns zu arbeiten gezwungen und die Freiheit werden wir nicht mehr erlangen. xxxxx. Das ganze Dneprufer. Dorf Domotkan. Dorf Krasnoje. Dorf Soschinowka (?). Im Lager befanden sich 3 000 Mädels, einige von ihnen waren meine Mädels aus unserem Dorf: xxxxx (?), O. sind verstorben, die anderen wurden in die Städte abgeworben zum Wiederaufbau. Dem Dorf gingen sie verloren. Es blieben ich und xxxxx. Unsere Gesundheit ist sehr schlecht, wir können nicht laufen, nur trippeln.
Heute schreibt man in den Zeitungen über die Hilfe aus Deutschland für uns. Man fordert das Arbeitsbuch, wo man gearbeitet hat, in welcher Stadt. Sie verstehen doch, wer hat an uns Arbeitsbücher ausgegeben, höchstens Schläge. Man hat uns als Sklaven betrachtet. Wenn wir krank geworden wären, dann wären wir verbrannt werden. xxxxx ist gefahren, konnte die Entschädigung aber nicht bekommen. Und ich bin nicht einmal gefahren. Zuerst haben wir je xxxxx bekommen, das war sehr gut. Unser Werk hieß Berlin, AEG KWO, wie ich es verstanden habe - Kabelwerk, und mehr weiß ich nicht.
Lieben Freunde, ich habe ein Foto, auf dem wir neben dem Lager mit dem Meister xxxxx aufgenommen wurden. Ich würde es Euch schicken, wahrscheinlich wird es nützlich sein. Ich habe noch eine Postkarte, die ich nach Hause geschrieben habe. Dort stand bei uns diese Adresse:
Berlin - Oberschöneweide, AEG KWO, Wilhelminenhofstraße 76/77.
Und wenn Ihr könnt, dann bitte ich Euch, sprechen Sie mit der Direktion dieses Werkes, damit sie uns weiter helfen, in der heutigen, für uns höllischen Zeit. Wir wollten doch, dass man uns durch unsere Regierung Traktor, Pflüge und Anhänger schicken würde, weil wir nichts haben, womit wir auf dem Feld arbeiten und das Heu einbringen könnten. Wahrscheinlich gibt es irgendeine Bestätigung, dass wir dort gewesen sind und für Euch gearbeitet haben, für Deutschland unsere Gesundheit haben ruinieren lassen.
Auf Wiedersehen.
Schreibt
Maria S. B. wurde 1924 in der Ukraine geboren. Sie wurde im Mai 1942 nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt, wo sie beim Kabelwerk AEG tätig war.
Herkunftsland: Ukraine
Geburtsjahr: 1924

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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