Abschrift: xxxxx
Ukraine



14. Oktober 1999
Ukraine, Dneprodsershinsk

Mit Hochachtung und guten Wünschen für Sie, Gisela Wenzel, und Ihre Historikergruppe, sowohl für das private Leben als auch für Ihre nicht leichte Arbeit, insbesondere gute Gesundheit, wende ich mich an Sie! Ich, xxxxx, habe mich Ihnen gegenüber schuldig gemacht. Ich habe den Brief im Oktober 1997 bekommen und habe bisher geschwiegen - habe nicht geantwortet.

Tausend Entschuldigungen Ihnen gegenüber! Ich beschreibe den Grund: Am 25. 6. 1997 wurde meine Wohnung durch Wasser überflutet (man hatte vergessen, im 5. Stock den Wasserhahn zu schließen, das Wasser sickerte bis zum Erdgeschoß durch, das Wasser lief 4 Stunden, bis die Nothilfe kam), es gab so viel zu tun, dass man sich fast zwei Jahre um diese Frage kümmern musste – alles war nass geworden, und das noch bei meiner Gesundheit. Und zu der Zeit habe ich den Brief gelesen, musste mich an alle vergangenen Kümmernisse erinnern, die Tränen, und das ist wie das Zerreißen einer Wunde auf dem Körper und das Gewissen sagt, man muss auf den Brief „meiner Berliner Landsleute“ antworten, und jetzt also schreibe ich mit Tränen in den Augen (anders geht es nicht).

Sie fragen, wie es zu all dem gekommen ist. Im Jahre 1942 begann man in unserer Gegend, die unter deutscher Herrschaft stand, die Jugend gewaltsam nach Deutschland abzuholen. Selbstverständlich wollte niemand fahren und das warme, gemütliche elterliche „Nest“ verlassen. Um so mehr als ich die Absicht hatte zu heiraten. Und da kam es zu einem so beängstigenden Umbruch, man musste sich dem Zwang unterordnen. Selbstverständlich bin ich noch auf dem Weg geflüchtet und habe mich in einer anderen Stadt versteckt. Ich schlich nachts durch die Steppe, gefrorene Sümpfe, das Wasser mit Eis stand mir bis zum Gürtel, ich befand mich noch auf der Heimaterde. Ich kann mich nicht gut erinnern, ob das einen oder zwei Monate dauerte. Danach hat man unsere Väter abgeholt, die Väter der Kinder, die geflüchtet waren, und man hat sie eingeschlossen in der Schule gehalten, solange sie nicht erzählten, wo ihre Kinder waren. Und dann hat man den Vätern vorgeschlagen, anstelle ihrer Kinder zu fahren. Und dann haben ich und andere in meiner Lage befindliche Mädels beschlossen, uns zu unterwerfen und nach Deutschland zu fahren. Und dann standen wir da wie Verbrecher unter besonderer Beobachtung. Man hat uns zu 50 Menschen in einen Güterwaggon verladen, bei uns befand sich ständig ein Deutscher, wir flüchteten schon nirgendwohin, haben geweint, geschriene, und der Zug, in dem es so kalt war, eilte nach Deutschland dahin. Diese Tragödie kann man ohne Tränen nicht wiedergeben. Meine liebe Mutter fiel besinnungslos zu Boden, und ich habe schon nicht mehr so sehr um mich geweint, als um meine Mutter, weil es mir nicht klar war, ob sie lebte oder wegen des schweren Trennung gestorben war.

Zu Hause blieben mein Vater und noch drei Schwesterchen, Lida, Olja, und die älteste, Anna. Sie war schon verheiratet, lebte abgetrennt. (Als ich zurückkam, lebte meine Mutter noch und den Vater gab es bereits nicht mehr). Mein junger Freund, Nikolai, hat sehr geweint und mich beschuldigt, dass ich nicht gewillt gewesen war, mich mit ihm einschreiben zu lassen, um nicht nach Deutschland fahren zu müssen. Wenn in einer Familie von Jungverheirateten ein Kind war, hat man sie nicht nach Deutschland verschleppt. Und ich hatte Angst, dass Krieg war, er getötet würde und ich...? Ich hatte noch nie Krieg erlebt. Er lebte als Schrecken in meinen Gedanken, aber praktisch habe ich diesen Schrecken ständig erlebt, solange ich auf Eurem Boden lebte (mit Ausnahme von zwei Monaten, als wir von den russischen Truppen befreit worden waren).

Nach der Rückkehr von Berlin in die Heimat, Ende 1945, weilte Nikolai schon nicht mehr unter den Lebenden. Zu viert mussten sie mit einem Boot den Dnepr überqueren, und ein Geschoß traf sie, und sie kamen alle ums Leben. Also, später habe ich auch junge Menschen getroffen, aber sie lagen mir nicht am Herzen, bis zum heutigen Tag bin ich allein geblieben, das Alter kam und mit ihm zusammen auch die Krankheiten. Zum Andenken habe ich einen kranken Hals (das geschah noch zu der Zeit, als ich dorthin gefahren bin), eine chronische Pharyngitis, wenn es kalt ist, tut es gleich weh, oder wenn ich die Hände in kaltes Wasser stecke, fühle ich gleich die Schmerzen. Das Unglück mit dem Hals passierte noch unterwegs, als ich bereits nach Deutschland fuhr. Wir hatten selbstverständlich trockene Lebensmittel bei uns, deswegen hatte man Durst und Wasser gab es keines (da habe ich erlebt, dass es schlimm ist, wenn man Hunger hat, aber wenn man Durst hat, ist es noch schlimmer). Wir hatten alle Durst. Was aber mich anbetrifft, so kann ich sagen, dass ich nicht zu faul war, um den Schnee, den Reif, das Eis von den Metallteilen im Waggon abzukratzen, und damit habe ich mir die Kehle erkältet und bis wir Berlin erreicht hatten, konnte ich schon nicht mehr sprechen, ich konnte schwer atmen und der ganze Hals war mit Belag übersät. Wir kamen abends um halb neun nach Berlin-Adlershof und am Morgen hat die Dolmetscherin Ljolja einer Frau von unserem Lager (sie war früher angekommen als ich) gesagt, dass sie mich zum Doktor bringen solle, und sie hat das gemacht.

Der Doktor hat mich gut behandelt, weil ich schuldlos gelitten hatte, er hat den Eiter aufgeschnitten, und ich konnte leichter atmen, aber so oder so habe ich bis heute einen chronisch kranken Hals – das Andenken an Deutschland ist geblieben. In unserer Stadt hat man mir die xxxxx und den xxxxx. Wahrscheinlich ist es mir bestimmt gewesen, mein ganzes Leben lang an Hals und Nase zu leiden.

So hat die Reise nach Deutschland meine ganze Jugend, und hauptsächlich die Gesundheit ruiniert.

Die Fahrt von der Heimat bis Berlin dauerte vom 8. Dezember 1942 bis zum 17. Dezember 1942. Im Waggon, der für die Beförderung von Gütern, nicht für die von Menschen vorgesehen war, gab es keinen einzigen Sitz, nur ein kleines Häufchen Heu, das wir ständig mit den Füßen niedertrampelten, bis es zu Müll geworden war, und es war Frost, ich weiß nicht wie viel Grad, ich weiß nur, dass wir alle furchtbar durchgefroren waren. Mich persönlich hat man sogar von einer Seite auf die andere gewälzt, ich konnte mich nicht erheben, nicht aufstehen, weil ich mit einem kurzen Jäckchen bekleidet war, und den Mantel wollte ich nicht von zu Hause mitnehmen, ich hatte auf Papa und Mama nicht gehört, habe gesagt: „Ich werde sowieso fliehen, und im Mantel ist es unbequem.“ (Aber es wäre doch wärmer gewesen.) Aber meine Gedanken ließen sich mit der Praxis nicht zusammenführen, es hat nicht geklappt. Ich weiß nicht, wie die Gegend heißt, wo der Ordnungshüter, der immer bei uns war, nicht mehr da war, aber wir hatten schon relativ viele Kilometer hinter uns gelassen und meine Pläne änderten sich. Fahren wohin immer und die Flucht vergessen.

Im Wald hat man uns im Verteilungslager in Reihen zu dritt aufgestellt, die deutschen Frauen haben für sich Arbeiterinnen ausgesucht, die ihnen gefallen haben. Aber mich hat man nicht genommen (obwohl ich jung und kräftig war). Jedes Blümchen ist, wenn es aufblüht, anziehend, wenn man ihm Aufmerksamkeit schenkt, also hatte auch ich meinen „FRÜHLING“ ... Die restlichen jungen Mädels hat man auf Autos geladen, und man hat uns zur Abendzeit in das strahlende und schöne Berlin-Adlershof gefahren. Man hat uns einquartiert im 5. Stock in einem Zimmer – 74 Menschen (dort haben schon Leute gelebt, die man früher gebracht hatte). Es war kalt, wir hatten Hunger, vor aller Ohren war Weinen und Stöhnen zu hören. Ich habe vergessen, kann mich nicht daran erinnern, wie lange wir dort gewohnt haben, scheinbar etwa ein Jahr. Danach wurde unser 5-stöckiges Haus zerbombt, und für uns hat man eine Holzbaracke gebaut, und bald hat man uns dorthin umquartiert, wo in jedem Zimmer schon weniger Leute lebten – etwa 10 – 12. Gegenüber unserer Fabrik Vogel lag Berlin-Köpenick. Ich kann mich nicht entsinnen, aber ich denke, dass wir ungefähr ein Jahr in dieser Baracke gelebt haben, wo es viele Wanzen gab, die uns gestochen haben. Die Bombenangriffe gingen uns sehr stark auf den Geist, nur eins wussten wir, man musste zum Luftschutzraum laufen und den Koffer mitschleppen. Und Kraft hatten wir nicht so viel, und er war schwer. Also, eines Tages als wir zur Arbeit waren, fiel gegen 11 oder 12 Uhr am Tage eine Brandbombe auf unsere Holzbaracke, die an einer Seite zu brennen begann und bald völlig verbrannt war. Die Sachen von vielen und auch mein Koffer verbrannten, aber man hat uns bald Schuhe und Kleidung ausgegeben. Die Hautsache aber war, dass dort 5 Mädels geblieben sind, die es nicht geschafft haben, herauszuspringen, und die verbrannt sind. Damals wusste ich, woher sie waren und kannte ihre Namen, jetzt habe ich sie vergessen. Sie hatten Nachtschicht gehabt und haben geschlafen. So haben wir sie auf einem deutschen Friedhof beigesetzt und Mütter, Väter und Geschwister würden sie schon nicht mehr sehen. Oh, wie viel Kummer bringt der Krieg – diese Bösartigkeit, wie viele Menschen auf beiden Seiten sind ums Leben gekommen.

So bin ich nach der Operation, die ich oben beschrieben habe, nach etwa sieben Tagen zur Arbeit gegangen – 8 Stationen musste man noch mit der Straßenbahn fahren, danach ein wenig zu Fuß laufen und dann war da Berlin-Köpenick, die Kabelwerke – Fabrik Vogel. Ich habe als Wicklerin gearbeitet (d.h. die Aufwicklung des Drahtes von größeren auf kleine Spulen), Arbeitnehmer Nummer 1922. Ich beginne die Spule und lege unten einen Kennzettel mit meiner Nummer, ich beende sie und wieder wickle ich von oben den Kennzettel darum, damit sichtbar war, wer das gemacht hatte. Gegenüber meiner Werkbank war die Einrichtung der technischen Kontrolle, wo zwei junge deutsche Frauen, Lisa und Resi, gearbeitet haben. Sie hatten ein gutes Verhältnis zu mir, oft kamen sie zu mir und fragten „Maria, warum weinst und weinst Du?“... Ja, das war wirklich eine Zeit der ausgiebigen Tränen und des reichlichen Kummers.

Die Abteilung war lange in der zweiten Etage, und die Eingangstür in die Werksabteilung war groß und knarrte. Wenn sie zu knarren begann, bedeutete das, dass jemand hereinkam. Wenn Lisa mit mir gesprochen hatte, hörte sie gleich auf.
Manchmal kam aus der dritten Etage der Obermeister und sagte (das war vor Ende des Krieges): „Maria, bald fährst Du in die Ukraine." Ich antwortete, dass ich nichts weiß, weil uns niemand etwas zu dieser Frage gesagt hatte und wir wirklich von nichts wussten.

Anna, eine alte Deutsche, ich denke mir, dass sie etwa 80 Jahre alt war, völlig ergraut, sagte mir: „In der Abteilung singen die Grashüpfer, das bedeutet Verwüstung.“ So ist es auch gekommen, dass die Fabrik sich bald leerte, ohne Menschen blieb. Und ich habe sogar nicht einmal daran gedacht, dass ich in die Ukraine zurückkehren werden würde, hier aber muss man Gottes Existenz anerkennen, des Schöpfers des Alls, der unseren Tränen und Bitten Gehör geschenkt hat.

Während der Luftangriffe hat man uns und die Deutschen gezwungen, uns in einem Bunker, einem Luftschutzraum, zu verstecken. Wie ein russisches Sprichwort sagt, ist es zum Kummer genau so weit wie zu Gott, und in unseren Seelen war etwas Unbestimmtes, ein Fünkchen Hoffnung für das künftige Leben vorhanden, obwohl uns nichts bekannt war, und wir haben alle wegen der Not und den Umständen entsprechend gesungen:
„Bete, mein Bruder, im fremden Land
Bete mein Bruder, für die Heimat
Bete für die, die dir am Herzen liegen
dass Gott sie verschont.
Sei uns auch jetzt die Familie und die Heimat entzogen
Aber wir glauben dass die Stunde kommt, und die Sonne für uns scheint.
Bete Schwester, dass Gott uns Kräfte gibt, alles zu überstehen
Damit wir in der Heimat wieder Frieden und Liebe antreffen...“

Unser Wunsch wurde Gott sei Dank erfüllt!!!
Nachdem unsere Baracke verbrannt war, hat man uns wieder nach Berlin-Adlershof gefahren (wo wir ursprünglich gelebt hatten).

In einer Aprilnacht saßen wir alle im Luftschutzraum und da hören wir Lärm und Weinen vor Freude. In den Bunker läuft ein Mädchen (von den Unseren) und weint und lacht, wobei sie sagt: „Ich habe einen russischen Soldaten gesehen.“ Wir glaubten ihr nicht und sie wiederholte uns immer wieder, dass es wahr ist, aber wir glaubten ihr nicht. Dann hat sie uns ein Papier mit kleinen Bonbons „Mompasje“ gezeigt, das sie in der Hand hielt, und begann uns davon anzubieten. Dann gingen wir alle raus aus dem Bunker nach oben, und viele konnten sich überzeugen, dass es nicht ein Soldat war, sondern viele, und sie haben uns bewirtet, nur mit Hering ohne Brot, und wir hatten zu der Zeit schon drei Tage nichts gegessen, weil es starke Kämpfe gab und man uns das Essen aus Berlin –Köpenick gebracht hat. Dort wo wir gearbeitet haben, gab es eine Kantine.

Nachdem wir den Sonnenaufgang abgewartet hatten, begaben wir Sowjetbürger uns zu Fuß auf den Weg, weil es keinerlei Transportmöglichkeit gab, alles war zerstört, Hausruinen, und der Rauch stieg scheinbar bis zum Himmel selbst. Also, wir gingen in die Heimat. Unterwegs gab es viele Sammelpunkte für „Sowjetbürger“, überall konnte man bleiben, am Tag und in der Nacht konnte man schlafen, wo Gebäude heil geblieben waren. Von uns gab es sehr viele, ununterbrochene Kolonnen, sie zogen und zogen bis zum späten Abend dahin. Und so bin ich mehr als 200 Kilometer bis zur Stadt Seelow gelaufen (so hieß die Stadt scheinbar). Dort befanden sich mehr als 5 000 junge Menschen, die man bereits in der Warteschlange registriert hatte, um sie in die Ukraine zu schicken. Dort hat man uns gut zu essen gegeben, Fleischernes zweimal am Tag, 600 Gramm Brot. Wir schliefen bis neun Uhr morgens, bis man uns zum Frühstück gerufen hat. Und so dauerte dieser „Kuraufenthalt“ 58 Tage bis zum Abtransport in die Heimat.

Wie viele Tage und Nächte wir gefahren sind, daran kann ich mich nicht erinnern, ich weiß nur, dass wir weniger Zeit nach hause unterwegs waren als wir nach Deutschland gefahren sind. Ich habe keine einzige Stunden geschlafen, das Herz war übervoll von Freude vor dem Treffen mit den Meinigen und den Freunden.

Als ich nach Hause kam, betrat ich den Hof, und dort, wo das große Haus gestanden hatte, aus dem ich weggegangen war, stand jetzt eine kleine Hütte, die die Mutter und meine Schwestern schon ohne den Vater gebaut hatten. Es war ohne Worte klar, dass sich nach dem Kriege alles zum Schlechteren geändert hatte: Armut, Unordnung, es gab keine Mittel um zu lernen (vor dem Krieg hatte ich 7 Klassen beendet und anderthalb Jahre eine Berufsschule für Köche besucht). Alles verlief gegen die Wünsche.

Ich habe als kleiner Registrator gearbeitet, das Gehalt war gering, deswegen auch die Rente – 53 Rubel (20 von Euren Mark). Im Grunde genommen müsste ich eine Kompensation bekommen für die abgearbeitete Zeit 1942-1945 im Werk Kabelwerke, Fabrik Vogel, Berlin-Köpenick, ich brauche eine Archivbescheinigung von der Arbeitsstelle, deswegen auch habe ich früher an einige Adressen geschrieben und an „Memorial“. Aber wie beleidigend ist es, dass mir niemand diese Bescheinigung ausstellen will, man sagt, dass die Archivdaten nicht erhalten sind. Ich werde weiter schreiben. Wahrscheinlich werde ich es nicht erleben, weil das Leben schon vergangen ist, es endet und beginnt nicht, und 76 Jahre sind sehr schnell verflogen, so wie ein Autor sagt:
„Schnell wie ein Traum vergehen die Jahre
Das Alter kommt zu Dir
Die Schläfen sind plötzlich von Reif bedeckt
Und alle Freude ist Dir genommen.“

Als ich nach Deutschland gefahren bin, war ich 19 Jahre alt.
Sie fragen, wie mein Leben überhaupt gewesen ist? Das Leben in Berlin war für mich sehr jammervoll, Tag und Nacht ein ziehendes Gefühl des Hungers, ständig hatte man Lust zu essen. Und das, was man uns gegeben hat, war bei weitem nicht ausreichend für junge Menschen. Am Ende des Arbeitstages, nachdem wir zum Lager zurückgekommen waren, bekamen wir: 100 Gramm Brot, 12 Gramm Butter, am Tage um 11 Uhr in der Kantine (auf dem Werksgelände) hat man jeden Tag Pellkartoffeln gegeben - 5 Stück (so groß wie ein mittleres Ei) und Suppe, etwa 300 Gramm, die ohne Kartoffeln, Fett, Salz und Grütze gekocht wurde, nur Steckrüben. Es kam vor, dass wir bei der Deutschen um Salz baten und sie schrie: „Kein Salz, kein Salz!“ Und gab nichts. Manchmal gab es eine Suppe – einfaches Mehl, das in kochendes Wasser eingerührt war. Und darin große Würmer von 4-6 Zentimeter Länge, weiße, die wie Nudeln darin lagen. Jeder hat die Würmer selbstverständlich zur Seite geschoben, und die restliche „Brühe“ hat man gegessen; es gab Suppe, die Kuhmist ähnlich sah – grün, und darin gab es nichts weiter, sehr schlecht schmeckend und wir blieben hungrig. Und das zu einer Zeit, wo der Mensch so organisiert ist, dass er täglich Essen braucht, besonders Brot. Ständig haben wir uns die Frage gestellt: Es ist interessant, ob es passieren wird, dass wir heute Brot essen werden. Dann gingen wir zu Kartoffeln über, mindestens Kartoffeln. Und danach schon zu Rüben. Doch woher sollte man das nehmen, wenn die Deutschen selbst Lebensmittelmarken bekommen haben – das war eine Verpflegungsration, und eine Verpflegungsration ist geeignet zur Erhaltung der Kraft und nicht um satt zu werden. Am Samstagen hat man uns eine bessere Verpflegungsration ausgegeben: 70 Gramm Wurst, 70 Gramm Zucker oder Pflaumenmus, am Sonntag gab es immer geschälte Kartoffeln, die mit irgendeiner geschmacklosen Soße übergossen wurden (Essen gab es immer zweimal täglich). Es kam vor, dass irgendein Bauer mit dem Auto Rote Bete zum Markt brachte und sie nicht teuer verkaufte, aber dort stand eine riesige Schlange. Die vorne standen schrien, dass man nur zwei Rote Bete verkaufen solle und die, die hinten standen, schrien, dass man eine verkaufen solle. Es kam vor, dass ich ab und zu Rote Bete kaufte und sie so gekocht habe: Ich habe sie geschält, in Scheiben geschnitten, sie in den Topf gelegt, mit Wasser bedeckt, sie war noch nicht fertig, und ich habe sie schon halb roh Scheibe für Scheibe aus dem Topf genommen und gegessen. Mehr hat man uns nicht verkauft, die Ostarbeiter hatten keine Lebensmittelkarten und keine Rechte.

Wir haben von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr abends gearbeitet, am Sonnabend bis 11.30 Uhr. Am Sonntag war frei. In der Fabrik hat uns niemand beleidigt. Die jungen deutschen Frauen sagten uns allerdings manchmal direkt ins Gesicht, dass wir russische Schweine seien. Wir haben das gehört und es geduldet, sie wussten wahrscheinlich nicht, wie wir dorthin zu ihnen in die „Pracht“ gefahren waren – unter Zwang, und wir haben nicht nur geweint, sondern vor Kummer geheult. Nicht dem eigenen Willen entsprechend, sondern dem des deutschen Kommandos, das nicht lange geherrscht hat. Geld hat man uns wenig gezahlt, und dafür konnte man nichts zu essen kaufen.
Gisela Wenzel und Ihre Gruppe, ich bin Ihnen herzlich dankbar für die guten Wünsche, für den Brief und bitte nochmals um Verzeihung, dass ich mit einer solchen Verspätung schreibe.
Wenn ich am Leben sein werde, dann werde ich Ihre Fragen weiter beantworten. Ich liebe alle Menschen, sie sind alle, wie man so sagt, von Gott geschaffen und sie (d.h. alle Nationalitäten) befinden sich in Gottes Hand wie ein Blumenstrauß. Ich wohne in einer 1-Zimmer-Wohnung, bescheiden, mit den Lebensmitteln helfen mir die Schwester und ihr Mann, sie bekommen eine größere Rente als ich.
Entschuldigen Sie, wahrscheinlich habe ich irgend etwas nicht so richtig geschrieben, im Laufe von 56 Jahren ist vieles vergessen. Den Brief habe ich die xxxxx gebeten abzutippen. Wenn Sie den Brief bekommen werden, dann schreiben Sie bitte mindestens einen kurzen Brief.

Mit Achtung und herzlichen Grüßen Maria


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DZSW 8447
Kurzbeschreibung

Maria K. wurde 1923 in der Ukraine geboren. Sie wurde im Dezember 1942 festgenommen und im Güterzug nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt, wo sie in einem Kabelwerk tätig war.

 

Herkunftsland: Ukraine

Geburtsjahr: 1923

 

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Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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