Abschrift: xxxxx
Ukraine
Xxxxx
Guten Tag, Gisela Wenzel!
Es schreibt Ihnen xxxxx (in Deutschland war ich unter meinem Mädchennamen xxxxx).
Ich möchte Ihnen für den Brief danken, den ich von Ihnen bekommen habe, bitte aber, mich dafür zu entschuldigen, dass ich so lange nicht geantwortet habe, da ich lange krank war. Jetzt schreibt Ihnen in meinem Namen, aber nach meinen Worten, meine Tochter, weil ich das selbst nicht schaffe. Es ist angenehm, dass man von uns weiß und in Deutschland an uns denkt.
Und jetzt zu dem, was ich behalten habe und was für Sie interessant ist.
Mein Mädchenname, unter dem ich auch in Deutschland war, ist xxxxx: Ich wurde am 23. März 1927 im ukrainischen xxxxx geboren. Vor dem Krieg habe ich drei Klassen der Dorfschule absolviert. In unserer Familie gab es vier Kinder: mich selbst, zwei Schwestern und einen Bruder, die alle jünger als ich waren, die Mutter, den Vater, der an die Front ging und nicht nach Hause zurückkehrte.
Man hat mich im Juli 1942 nach Deutschland verschleppt, als ich 15 Jahre und vier Monate alt war, aber in meinen Papieren, auf deren Basis man mich nach Deutschland verschickte, hat man mich ein Jahr älter gemacht, und ich stand dort unter dem Geburtsjahr 1926.
Vieles habe ich selbstverständlich schon vergessen, weil ich damals nur daran dachte, am Leben zu bleiben und so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren. Ich habe auch schon die Namen der Städte und der Straßen vergessen, kann mich aber an den Lageplan und den Standort unseres Werkes, in dem ich gearbeitet habe, erinnern. Diesen Plan schicke ich Ihnen.
Von der Ukraine hat man uns in Waggons über Krakau gefahren, dort hat man unsere Dokumente überprüft und uns aufgeteilt, wer wohin weiterfahren sollte. Danach erinnere ich mich, dass man uns zur Station KÖPENICK (oder KÖPENING) gebracht hat, das hat uns der Dolmetscher gesagt. Diese Station befand sich in Berlin selbst. Wie ich mich erinnere, lagen die Bahnhofsgebäude selbst und die Eisenbahngleise erhöht, und um zur Stadt oder zu unserem Werk zu gelangen, musste man hinuntergehen zu einem Übergang. So also habe ich diese Stelle behalten.
Unser Werk befand sich, wie ich später verstanden habe, unweit dieser Station. Von den Unseren arbeiteten 83 Menschen in dem Werk. Das Werk war nicht groß – es war ein zwei-oder dreistöckiges Gebäude, das sich in der Mitte eines Hofes befand. Auf dem Territorium des Werkes gab es ein Eckhaus, das als Wohnblock diente. Hier befanden sich auch Holzbaracken, in denen wir lebten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich eine Bäckerei und eine Bierstube, ein Stückchen weiter, hinter der Station, waren ein kleiner Markt und Läden.
Wie der Besitzer unseres Werkes hieß, weiß ich nicht, weil man uns das nicht gesagt hat, und es war uns überhaupt verboten, Gespräche über die Arbeit zu führen, über das Werk, es war uns sogar verboten, miteinander zu sprechen.
Erst hat man uns gesagt, dass wir irgendwelche Details für Motorräder herstellen würden, in der Tat aber (das haben wir später begriffen) haben wir Rohlinge für Geschosse und Kugeln hergestellt. Ich habe an einer Werkzeugmaschine gearbeitet, und weil ich von kleinem Wuchs war, hat man einen Holzkasten an die Maschine gestellt, damit ich hinaufreichen konnte. An der Maschine habe ich an den Rohlingen Gewinde geschnitten. Die Arbeit war Fließbandarbeit, jeder hat seinen Teil bearbeitet. Wir haben von sechs Uhr morgens bis achtzehn Uhr abends gearbeitet, die Polizei lief ständig an uns vorbei und hat überprüft, ob wir arbeiteten, ob wir keinen Stillstand hatten, oft haben sie uns wegen nichts geschlagen.
Ernährt wurden wir schlecht. Häufig haben wir wegen der unzureichenden Ernährung an den Maschinen das Bewusstsein verloren. Ich kann mich an eines unserer Mädchen erinnern, dass das Bewusstsein verlor, ihre Haare haben sich in einem Bohrer verfangen, und die ganze Kopfhaut wurde abgerissen. Das war schrecklich anzusehen, aber man hat uns deswegen noch beschimpft, dass wir daran schuldig wären.
Während der Arbeit im Werk wurde ich lungenkrank. Zuerst lag ich in Berlin in einem Krankenhaus, und danach hat man mich in ein Spital überwiesen, dass sich in der Nähe der französischen Grenze befand, wohin ich durch einen Arzt begleitet wurde. Am Eingang zum Spital befand sich an der rechten Seite das Krematorium, in dem man die Toten verbrannt hat. Das haben wir begriffen, als dort Autos vorfuhren und gleich danach aus den Schornsteinen Rauch herausquoll. Auf dem ganzen Territorium des Spitals standen Holzbaracken. Hier ließen sich sowohl Franzosen als auch Tschechen, Russen und Ukrainer behandeln. Mich haben hier Dr. xxxxx und die russische Ärztin xxxxx behandelt. Ich bin ihnen dafür dankbar, dass ich lebe. Ich hatte eine xxxxx, und man hat mir am Rücken sieben Punktionen gemacht, man hat die Flüssigkeit aus den Lungen herausgezogen. Die Spuren der Punktionen sind bis heute geblieben und machen sich bemerkbar, häufig begannen sie zu schmerzen. Meine Krankheit kann ich aber nicht beweisen, weil mir keinerlei Dokumente geblieben sind.
Als ich in dem Werk gearbeitet habe, hatten wir irgendwelche Nummern, aber welche ich hatte, daran kann ich mich nicht erinnern. Auf der Oberbekleidung tragen wir in blau mit weißem Rand das Zeichen OST.
Nach Hause durften wir keine Briefe schreiben.
Befreit haben uns russische Truppen. Zu uns kam ein Dolmetscher mit einem russischen Soldaten und hat uns gesagt, dass wir frei sind und nach Hause fahren können. Unsere Freude war grenzenlos. Danach hat man uns alle auf einen LKW verladen und über ein Flüsschen gebracht. Es war tief, aber nicht breit. Und weil die Brücke über das Flüsschen zerstört war, überquerten wir es zu Fuß. Man hatte Angst durch die Stadt zu gehen, weil die ganze Zeit Flugzeuge Bomben abwarfen. Man hatte Angst über die Straßen zu gehen, auf denen Blut vergossen worden war und die Leichen der Erschlagenen lagen. So kamen wir bis zu einem Bahnhof, auf dem Züge zum Abtransport zusammengestellt wurden. Hier haben wir viele unserer Landsleute getroffen. Man hat uns in Waggons verladen und hat uns nach Hause geschickt. Nach einem Monat waren wir mit Mühe zu Hause angelangt.
Zusammen mit mir waren viele meiner Dorfgenossen in Deutschland.
xxxxx – geb. 1926 (meine xxxxx) – sie starb in Berlin im Krankenhaus.
xxxxx
Gleich nach meiner Ankunft zu Hause habe ich zu arbeiten begonnen. Ich habe als Brigadierin gearbeitet. Für gute Arbeit wurde ich mit dem Rotbannerorden und mit der Medaille „Heldentum der Arbeit“ ausgezeichnet. Ich habe die ganze Zeit bis zur Rente gearbeitet. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, mein Mann starb im Jahre 1981, jetzt lebe ich allein.
Als Andenken an jene Zeit verblieb mir ein vergilbtes Foto. Sie müssen aber entschuldigen, dass ich es Ihnen nicht schicken kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit
Mit den allerbesten Wünschen für Sie xxxxx
16. Dezember 1998
Ich bitte Sie sehr, das Werk zu finden, in dem ich gearbeitet habe und auch das Spital, in dem ich zur Behandlung war. Ich brauche das jetzt sehr.
Ich bin Ihnen im voraus dankbar.
Unten Skizze zur Lage des Werkes mit deutscher Beschriftung in Übersetzung.
Anna L.S. wurde 1927 in der Ukraine geboren. Sie wurde im Juli 1942 festgenommen und nach Berlin zur Zwangsarbeit verschleppt, wo sie in einem Werk tätig war. Während der Zeit in Deutschland erkrankte sie schwer.
Herkunftsland: Ukraine
Geburtsjahr: 1927
© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt
© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt
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