Abschrift: xxxxx



Guten Tag, Gisela Wenzel!

Ich habe von Ihnen einen zweiten Brief vom 23.11.97 erhalten. Mit der Antwort habe ich etwas gezögert. Selbstverständlich erwecken diese Ihre Briefe bei mir keine angenehmen Erinnerungen. Es ist nicht leicht, sich ohne Tränen und Trauer an das alles zu erinnern. Aber von bitterer Trauer gepackt schreibe ich als Antwort das, was ich aus den Worten der Schwester und ihrer Altersgenossen weiß, die mit ihr zusammen von 1942 bis zum Juni 1945 in Berlin gewesen sind. Ich habe Ihnen geschrieben, dass Pelageja Garn auf Spulen aufgewickelt hat. Das war aber ein Fehler meinerseits, es waren Drahtspulen. 1 Millimeter und dicker. Das war in der Fabrik Vogel in Berlin, und wie sie jetzt heißt, weiß ich nicht. Das Leben dort war: im fremden Land, weit von der Heimat fort, haben sie die Ihren und die Heimat sehr vermisst. Sie waren doch noch nirgendwo gewesen, sie waren doch Kinder, 16 Jahre waren sie alt. Versuchen Sie sich vorzustellen, in einem solchen Alter von der Mama wegzufahren, keine Lebenserfahrung, die ganze Zeit Mama und die Verwandten neben sich und plötzlich hat man sie zu den Feinden verschleppt. Gearbeitet haben sie 8- 12 Stunden. Sie hat die ganze Zeit in der Fabrik Vogel gearbeitet, aber zuerst hat sie in derselben Fabrik im Erdgeschoß die Fußböden gewaschen, barfuß, Zementfußböden, wo sie sich auch die Knochentuberkulose geholt hat. Dann hat man sie in den ersten Stock überführt, wo sie diese Drahtspulen gewickelt hat. Sie haben gehungert, man hat ihnen 300 Gramm Brot und eine Suppe aus Steckrüben zu essen gegeben, beides voller Würmer. Sie hat sich an einen Vorfall erinnert. Sie kamen zum Mittagessen, man hat ihnen eine Plempe mit Würmern gegeben. Dann haben Pelageja und ihre Freundin diese Plempe genommen, in Flaschen gegossen, und sind weggegangen. Aber nach einer gewissen Zeit kam man zu ihnen gelaufen und hat sie zu irgendeinem Chef bestellt, und sie wurden bestraft, zwei Wochen lang durften sie das Lager nicht verlassen, und wenn sich das wiederholen sollte, dann würden sie ins KZ geschickt werden.

Lohn hat man einen geringen gezahlt, davon konnte man nur etwas Brot kaufen, schwarz. Die Franzosen haben dort mit Brot gehandelt. Gewohnt haben sie im Lager, im Ghetto. Zuerst befand sich das Lager auf dem Territorium der Fabrik, und nachdem es zerbombt worden war, hat man sie irgendwohin zu einem anderen Platz gebracht. Später haben sich viele Mädchen bekehrt (Evangelisten-Baptisten), begannen an Gott zu glauben, und man hat sie zur Versammlung mit einem Bus 18 Kilometer weit gefahren. Das war in Berlin, und bei dieser Versammlung haben die Deutsche ukrainisch gepredigt.

Wenn jemand krank wurde, blieb er liegen, bis er gesund wurde. Geheilt haben deutsche Ärzte. Der Aufseher dort hieß xxxxx. Während der Krankheit hat niemand sie belästigt. Es gab deutsche Frauen, die heimlich ein Stückchen Brot mitbrachten. Ihnen war das verboten. Die Stadt war Berlin, und alle haben das behalten, Fabrik Vogel, Adlershof (?). Aber die Pakete an Pelageja habe ich beschrieben: Stadt Berlin, Lager Vogel.

Die Befreiung kam zwei Wochen nach der Beendigung des Krieges. Es kamen russische Soldaten und haben sie befreit. Einige wurden zur Arbeit in den Truppenteilen mitgenommen, und Pelageja fuhr, weil sie schon krank war, nach Hause.

Na Gisela Wenzel, was ich konnte, habe ich beantwortet, mehr kann ich nicht sagen, weil ich nichts weiß. Nach der Rückkehr nach Hause lag sie zwei Jahre im Krankenhaus, bis man das Bein amputiert hat, und dann musste man daran denken, wie man ein Stück Brot verdient. Ohne Fachausbildung hat sie alles gemacht, und durch den Gemüsegarten ist sie auf den Händen gekrochen, hat gesät, gejätet, alles liegend. Hat Bäume gepflanzt, und dann hat sie xxxxx bekommen. Rente xxxxx. Und die Eimer mit Wasser hat sie mit einem Bein geschleppt. Den Vater gab es nicht, er ist im Krieg getötet worden, die Mama war alt, und wir konnten ihr auch nicht helfen, weil wir in der Stadt gearbeitet haben, man musste die Jahre für die Rente abarbeiten. Was für eine Hornhaut hatte sie an den Handgelenken, weil sie sehr viel auf den Händen über den Boden gekrochen ist!

Um Pelagejas Leben kann man sie nicht beneiden. Ihr ganzes Leben und ihre Jugend vergingen in Not und Kummer. Nur eine Freude hatte sie, dass sie 52 Jahre lang ein gläubiger Mensch war, dass sie immer auf Gott gehofft hat, und er hat sie immer unterstützt und hat ihr Freude geschenkt. Und wie war es für uns, uns das alles ansehen zu müssen, mit 22 Jahren eine Invalidin ohne Bein, immer auf Krücken, weil sie die Prothese wegen der Stumpfschmerzen nicht tragen und damit nicht gehen konnte.

Die Fotos schicken Sie zurück. Schreiben Sie über Pelageja, erzählen Sie, was der deutsche Krieg uns gebracht hat, damit es sich nie wiederholen möge.
Ach! Wie schmerzhaft ist es für uns, sich an all das zu erinnern. Ein Mensch, der das nicht erlebt hat, wird das nicht verstehen.

Auf Wiedersehen und Lebewohl
Gisela Wenzel

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DZSW 1354
Kurzbeschreibung

Im Dezember 1942 wurde Pelageja W. N. nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt. Unterwegs ist sie geflüchtet, wurde aber wieder festgenommen. Sie war bis 1945 in Berlin bei der Fabrik Vogel tätig. In der Zeit bekam sie eine Knochen-Tuberkulose, was zu einer Amputation führte.

 

Herkunftsland: Ukraine

Geburtsjahr: 1925

Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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