Abschrift: Übersetzung Brief 347

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Jhrg. 1924
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Ukraine



Guten Tag, liebe Gisela Wenzel und Arbeitskollegen!

Ihren Brief habe ich bekommen. Wir arbeiteten in Spindlers Fabrik fast ohne Pausen, die verbliebene Zeit fuhren wir durch die Stadt, trafen uns mit den gleichen Leuten wie wir es waren, ins Lager Verschleppte. Wenn jemand etwas auftrieb, dann teilte er es, besonders diejenigen, die beim Bauern arbeiteten. Ich habe schon geschrieben, da es verboten war, sich hinzulegen oder sich auf die Pritschen/Betten zu setzen. Eine meiner Landsmänninnen hat sich hingesetzt, und da war die Deutsche, die für uns verantwortlich war, uns geleitet hat, hat sie an der Schulter gepackt, hat sie gezwungen, Sand zu schaufeln. Dann hat eine Ukrainerin sie an den Haaren gepackt und hat sie geschlagen, und die ist hingefallen. Die Ukrainerin Marussja wurde ins KZ gebracht, sie blieb am Leben und kam in die Heimat zurück. Es gab auch ein französisches Lager für Kriegsgefangene. Wir verstanden sie nicht, und sie uns nicht. Auf der anderen Seite der Fabrik gab es ein ukrainisches Lager für Männer, die auch in der Fabrik arbeiteten. Meine Liebe, ich erinnere mich schon nicht mehr an den Ort des Lagers, in das die Kranken gebracht wurden. Ich und meine Freundinnen fuhren dorthin, da gab es Leute aus unserem Lager, und wir sahen uns durch den Stacheldraht und den Zaun. In jener Fabrik gab es eine Abteilung, wo Farbe für Holz hergestellt wurde, und man wickelte Fäden auf. Die Mädchen wohnten in einem Lager in verschiedenen Baracken. Es gab auch Polinnen in unserem Lager. In Spindlers Fabrik arbeiteten Juden überall, in allen Abteilungen, da, wo ich arbeitete, gab es keine. Jeden Morgen gingen wir mit ihnen zusammen an der Pförtnerloge vorbei, und sie gaben uns, von den Deutschen unbemerkt, ein Stückchen Brot. Eines Tages kamen wir zur Arbeit, und sie kamen auch. Zur Toilette gingen wir nach draußen. Die Tür wurde geschlossen, und wir durften nicht raus, und uns wurde gesagt, dass die Juden kaputt seien. Sie wurden aus allen Abteilungen abgeführt und auf Kraftfahrzeuge verladen. Wir weinten sehr, vielleicht erwartete das auch uns. Es tat uns sehr leid für sie, junge, schöne Mädchen. Am nächsten Tag gab es sie nicht mehr. In der Stadt trugen sie ein Unterscheidungsmerkmal, einen Stern und die Aufschrift "Jude". Es waren sehr wenige geworden, nur sehr selten konnte man ältere Menschen treffen. Französinnen gab es im Lager nicht. Nach dem Krieg kam ich nach Hause zurück, voll von Läusen. Zwei Monate lang pflegte ich mich gesund, ich genas. Es war schwierig, eine Arbeit zu finden, wir seien Verräterinnen, aber durch Bekannte habe ich Arbeit gefunden. Im Kolchos wurde uns ein Arbeitstag gutgeschrieben, und am Jahresende gab es für einen Arbeitstag 200 Gramm Korn. Aber ich ging in einen Betrieb arbeiten, wo Geld gezahlt wurde, und die Schwester blieb im Kolchos - schreckliche Steuern, und ich half sie zu zahlen, half mit Bekleidung, die Mutter starb, der Bruder kam von der Armee, er diente sieben Jahre lang, von 1944 -1952. Er kam zu mir in die Stadt Sholtyje Wody, wir mieteten eine Wohnung. Er holte auch die Schwester, und wir bauten uns ohne Eltern selbst unser Leben auf. Der Vater ist an der Front ums Leben gekommen. Nach dem Krieg war alles zerstört, 1946 gab es eine Missernte, 1947 gab es eine Hungersnot, viele sind gestorben, aber wir haben überlebt. Es gab alles auf Lebensmittelkarten, wir arbeiteten und bauten uns das Häuschen, in dem ich jetzt wohne. Die Schwester und der Bruder bekamen staatliche Wohnungen. Es war sehr schwer zu bauen. Etwas Gutes gab es in meinem Leben, dass ich einen gutherzigen Mann hatte. Er war ein Waisenkind, arbeitete viel und zu Hause haben wir auf jede Weise dazuverdient, bestellten den Gemüsegarten, einen kleinen Garten, alles war ein Zusatzverdienst. Unsere Generation hat nichts Gutes gesehen, und wie schwer ist es jetzt für uns Ältere zu leben. Jetzt werden wir von niemandem gebraucht, weder vom Staat noch von den Kindern, weil sie auch schlecht leben, und uns Älteren geht es moralisch und materiell schlecht. Meine Lieben, wie schwer ist es zu leben.

Ich gratuliere Ihnen zum Neuen Jahr, zu Christi Geburt. Ich wünsche Ihnen und allen Kollegen gute Gesundheit, alles Gute im Leben, denn wenn man gesund ist, hat man alles. Alles Gute. Auf Wiedersehen. xxxxx.


Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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DZSW 1328
Kurzbeschreibung

Die Ukrainerin Tatjana A. G. wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, wo sie in Spindlers Fabrik gearbeitet hat. In wenigen Sätzen beschreibt sie den Abtransport von jüdischen Zwangsarbeitern.

 

Herkunftsland: Ukraine

Geburtsjahr: 1924

 


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Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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