Abschrift: xxxx

xxxx
Es war das dritte Kriegsjahr. An einem Sonntag Nachmittag, dem 14. November 1942, kam zu uns ein Gendarm nach Hause, ein Volksdeutscher, mit einer Vorladung für mich. Am nächsten Tag, d.h. am Montag sollte ich mich unverzüglich beim Arbeitsamt in Łęczyca zwecks Registrierung melden. Seiner Ansicht nach, war das nichts Ernsthaftes und ich hätte nichts weiteres zu befürchten. Er warnte aber meine Mutter, damit ich nicht versuche davonzulaufen, denn in diesem Fall müsse sie, mein jüngerer Bruder und die ganze Familie mit scharfen Repressionen rechnen Ein Tag zuvor fuhr mein Vater mit meiner älteren Schwester zur Familie nach Łódź. Sie sollten in zwei Tagen zurück sein. Nachdem der Deutsche gegangen war, holte meine Mutter weinend einen Koffer und begann, für mich ein wenig warme Wäsche, irgendwelche Pullover, einen warmen Schal, einen Rock und andere Kleinigkeiten zusammenzupacken. Das wichtigste war aber das rationierte Brot und etwas aus den häuslichen Vorräten.

Mir persönlich schienen diese mütterlichen Vorbereitungen völlig hinfällig, denn in meiner Naivität dachte ich, ich komme gleich zurück. Es gab schon einmal eine Registrierung der polnischen Bevölkerung, als die deutschen Truppen in die Wojewodschaft Łódź einmarschierten, die ins 3. Reich als sog. Warthegau eingegliedert wurde. Nach verschiedenen Deportationen, Aussiedlungen und Umsiedlungen der Polen schien uns, daß wir den Winter gemeinsam in verhältnismäßiger Ruhe verbringen werden.

Kurz danach bekamen wir aber die Nachricht, daß auch andere Personen ähnliche Vorladungen bekommen hatten, und daraus ließ sich leider nichts Gutes voraussagen. Bei unseren Nachbarn gegenüber arbeitete noch seit der Vorkriegszeit Józia, die allein ihren 3jährigen Sohn großzog. Sie kam verweint und unsagbar besorgt zu uns. Auch sie bekam diese Vorladung, und ihr Kind mußte sie der Obhut der Familie überlassen, bei der sie arbeitete. Es war ein kinderloses Ehepaar, die Frau war Hebamme.

Nach der schlecht durchgeschlafenen Nacht gingen ich und die völlig niedergeschlagene Józia zum Arbeitsamt. Dort waren bereits zig Personen, meistens junge Frauen. Männer schienen verschwunden zu sein, nur ein paar Überbleibsel konnte man auf dem Korridor sehen. Ich traf auch ein paar bekannte Mädchen. Das Gebäude war von den Deutschen umstellt, sie ließen uns rein zur Registrierung, aber dann konnte niemand das Haus verlassen. Gegen Mittag stellten sie uns in eine ziemlich große Kolonne auf und führten uns unter Bewachung zum Bahnhof. Also, doch Verschleppung. Ich war damals 18, Józia war wesentlich älter.

Damals am Bahnhof in Łęczyca wußte ich noch nicht, daß das der Anfang der schwierigsten Zeit meines Lebens ist, und daß die Hölle so nah liegt. Das Ziel der Reise an diesem Tag war Łódź und das Gefängnislager in der Kopernik-Straße. Es war ein Sammel- und Durchgangslager, errichtet in den früheren Fabrikgebäuden in der Nähe des Hauptbahnhofs Łódź Kaliska. Eine solide Mauer trennte das Gelände von der Straße. Es war schon Nachmittag. Nachdem wir die nicht allzulange Strecke zurücklegten, öffnete sich vor uns mit großem Krach und Lärm das schwere, eiserne Tor, dann ging es ebenso laut zu.

Hinter ihm war ein ziemlich großer, gepflasterter Innenhof, rechts gab es irgendwelche Räume, in denen wir „untergebracht“ wurden. Es war eine große Fabrikhalle, aus der alles weggebracht wurde, so daß nur nackte Wände blieben und ein unglaublich schmutziger und verdreckter Fußboden, oder eher eine Tenne. In diesem Saal hockten bereits ein paar Hundert Menschen auf dem Boden, und es schien, daß wir nicht hineinpassen würden. Wir paßten hinein. Jeder, der dort hineingezwängt wurde, mußte irgendwie Platz für sich finden. Schockiert und müde versuchten wir, Józia und ich, uns in dieser Menschenmenge niederzusetzen. Es kam die Nacht. Die unter der Decke hängenden Lampen erhellten nur dürftig die Dunkelheit und neben uns versuchten unzählige Menschen, sich einzurichten: mit einem Bündel oder Koffer unter dem Kopf, sitzend oder schließlich doch liegend auf dem Fußboden. Denn trotz des Ekels kam ein solcher Moment, daß man es nicht länger aushalten konnte, man war so gequält, daß man sich einfach hinlegen mußte, in Kleidern, Mänteln, egal. Da die Novembernächte kühl sind, wurde die Tür zugemacht. Aber gegen Mitternacht tröpfelte von der Decke und den Wänden der Dunst herunter. Es herrschte ein fürchterlicher Gestank, man öffnete also die Tür. Die frische Luft kam herein, zugleich aber auch die durchdringende Kälte.
Ein neuer Tag kam. Vom Waschen war keine Rede, man konnte nur in die Latrine gehen. Auf dem Hof stand eine Feldküche und dort konnte man eine Kelle schwarzen, bitteren Kaffees bekommen. Eine von uns hatte Flasche und Józia holte etwas von diesem Trunk. Das Frühstück bestand aus den mitgenommenen Vorräten. Das schwere Tor öffnete sich oft, denn es fuhren irgendwelche Militärfahrzeuge vor, die man aus- und wieder einlud, mit denen auch neue Menschengruppen gebracht wurden, höchstwahrscheinlich von den Straßenrazzien.

In der Feldküche wurde zu Mittag irgendwelche Suppe ausgegeben, aber die konnten nur diejenigen bekommen, die Näpfe oder größere Becher hatten; jemand kam sogar mit der Suppe in einer abgebrochenen Flasche.
Es näherte sich die nächste grauenvolle Nacht. Es wurde immer enger, immer neue Menschen kamen hinzu. Als die meisten bereits zu schlummern begannen, ertönte plötzlich von der einen Ecke des Saals ein aufreißender Schrei, ein unmenschliches Heulen, das uns alle aufspringen ließ. In solchen Fällen schritten die Deutschen ein und führten oder trugen jemanden heraus. Man wußte nicht, ob er wahnsinnig wurde oder seinen Schmerz nicht mehr ertragen konnte. Dann wurde es allmählich wieder still und die Menschen fielen in den Halbschlaf.

Jeder nächste Tag, jede nächste Nacht war sich ähnlich. Ungewaschen und verdreckt vegetierten wir wie Tiere. Mein beigefarbener Herbstmantel verwandelte sich langsam in einen elenden Lumpen. Alle waren wie abgestumpft; das sah man auf den Gesichtern, das las man von den dunklen Augenringen ab. Und niemand wußte, was weiter.

Dort blieben wir 6 Tage und 6 Nächte. Am Sonntag im Morgengrauen hießen uns die Deutschen mit Gebrüll aufzustehen. In Eile ließen sie uns eine Kolonne formieren, die zum Bahnhof, zu den Zügen geführt wurde. Als wir durch das Höllentor gingen, hörten wir das pulsierende Leben der Stadt, das Quietschen der Straßenbahnen, das Surren der dahinrasenden Autos, sogar den Klang einer Glocke.

Der für uns aufgestellte Zug hatte Personenwaggons. Mein Gott, was für eine Erleichterung, endlich von dem Fußboden aufstehen und sich auf einer trockenen und sauberen Bank im Waggon hinsetzen zu können. Das rhythmische Gepolter des Zuges wirkte beruhigend und bald schliefen die ganzen Abteile. Wie gut es war, den bedrückten Kopf auf die Schulter des unbekannten Mädchen nebenan, die ebenso erschöpft war, hinzulegen.
Die Waggons waren abgeschlossen und unsere „Betreuer“ saßen auf dem Korridor und bewachten uns. Wir schliefen ein paar Stunden lang und uns war vollkommen egal, ob wir fahren oder auf dem Nebengleis stehen. Hinter den Zugfenstern war es grau, aber gegen Mittag erschien kurz die Sonne rote Dachziegel der Häuser in Städten und Siedlungen. Wir fuhren an Zbąszyń (Bentschen - Anm.d.Ü.) vorbei und stets ging es weiter gen Westen. Schnell brach die Dämmerung herein und der kurze Novembertag ging zu Ende. Dann fuhren wir über eine schwach beleuchtete Bahnstation, aber mir gelang es, den Namen Frankfurt zu bemerken. In der Nacht erreichten wir endlich das für uns bestimmte Ziel. Wir steigen aus, gehen in eine Baracke hinein. Dort gibt es hölzerne Etagenpritschen ohne Strohsäcke, aber sauber. Wir legen uns hin, immer noch in denselben Kleidern, so wie wir gekommen sind. Wir befinden uns im Wilhelmshagen bei Berlin.

Endlich kann man die klebrigen Hände und das Gesicht waschen. Zum Frühstück - Portion Brot und ein Becher schwarzen Malzkaffees. Dann Fotos in einem Automaten. Auf den ausgestellten Papieren Fingerabdrücke, von der linken und rechten Hand. Dieses Dokument ist die Arbeitskarte. Es ist der 22. November 1942. Ich und Józia halten immer zusammen, neben uns lauter unbekannte Gesichter der Mädchen.

Bald kommt der „Käufer“; es ist ein Vertreter der Fabrik, in der wir arbeiten sollen. Er sucht sich zig junge Frauen aus und behält unsere Papiere. Dann führt er uns zur S-Bahn-Station. Nach einer mehr als zehnminütigen Fahrt steigen wir an der Station Adlershof aus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt es Baracken, unsere neue Unterkunft. Als wir das Lagergelände betreten, sind wir über den unglaublichen Dreck und Gestank entsetzt. Vor uns waren hier die Kriegsgefangenen. Hölzerne Baracken ähneln den schnellebig zusammengebastelte Pferdeställen. Im Inneren stehen Etagenpritschen mit ekelhaft verdreckten, abgewetzten Strohsäcken. Anstatt des Fußbodens die festgetretene dreckige Tenne. Wir versuchen die Strohsäcke mit eigenen Sachen, einem Handtuch oder etwas ähnlichem zuzudecken. Es ist kalt, wir legen uns zu zweit hin, um uns aufzuwärmen. Es gibt keine Decken, so sind unsere Mäntel nach wie vor unschätzbar.
Morgens wartet auf uns derselbe Fabrikangestellte. Es war ein Ingenieur, Österreicher. Er führte uns in die Gummifabrik, eine Firma von Mery Daubitz. Wir gingen etwa 1,5 km zu Fuß. In verschiedenen Hallen teilte man uns Arbeitsplätze zu. Ich und andere Mädchen gelangten in die wohl schwerste Abteilung. Wir sollten die dünnen Ärztehandschuhe von den schweren Steingutformen abnehmen. Die Halle, in der wir arbeiteten, stellte eine Verlängerung von einer anderen dar, in der elektrische Öfen standen, wo sich die ganze technische Endbehandlung verschiedener Produkte vollzog. Nach der Öffnung der Öfen qualmten eine Weile lang Schwaden vom heißen Gummirauch, so daß man kaum etwas sah. An den Öfen arbeiteten Holländer mit einem deutschen Meister. Neben mir arbeitete xCzesia; wir holten auf einer langen Schiene die aus den Öfen herausgenommenen und abgekühlten Formen mit Handschuhen. Dann steckte man jede solche „Hand“ in einen speziellen Griff ein, bestreute sie mit dem Talkumpulver und nahm vorsichtig den Handschuh ab. Anfangs brachte uns unser Betreuer, der Ingenieur, geduldig bei, wie man das macht. Jede von uns mußte täglich bis zu 150 Kilo heben, denn zunächst holten wir eine solche Schiene für mich, dann die zweite für Czesia, und später trugen wir die beiden zurück, zu den Öfen.
In einer Ecke der Halle arbeiteten zwei junge Juden, mit Armbinden. Sie nahmen von den Formen sehr dicke, schwarze Handschuhe ab, die bei der Bedienung der Kanonen gebraucht wurden. Eines Frühlingstages kamen sie nicht mehr zur Arbeit. Ihre Plätze besetzten Holländer.

In der Halle nebenan klebten die Mädchen an langen Tischen große Gummiblätter zusammen, aus denen Sperrballons hergestellt wurden. Sie arbeiteten stehend, wie wir in unserer Halle; vielleicht war ihre Arbeit sogar leichter, aber die verschiedenen Klebstoffe riefen bei ihnen oft akute Bindehautentzündung hervor. Nach dem ersten Arbeitstag litten wir alle, ohne Ausnahme, unter schrecklichen Kopfschmerzen und dem Brechreiz. Wir stanken nach Gummi. Allmählich gewöhnte sich aber der Organismus daran und nach einer Weile ließen die Kopfschmerzen nach. Ins Lager kehrten wir zusammen mit unserem Betreuer zurück. Dieser tägliche Fußgang dauerte zwei Wochen lang. Am Morgen des 7. Dezember fuhr ein Lastwagen vor, auf den wir unsere Sachen einluden. Es folgte der Umzug ins Lager nach Rudow, in die Köpenicker Straße.

Mit Erleichterung verlassen wir das Lager in Adlershof. In der uns zugeteilten Stube in der Baracke Nr.20 gab es 10 Etagenpritschen, einen Tisch, zwei Bänke und einen hohen Koksofen. Zwischen den Pritschen standen metallene Schränkchen militärischer Art, unter jeder Pritsche stand eine kleine metallene Wasserschüssel. Zur Ausstattung gehörten auch saubere Strohsäcke, zwei dünne Decken, ein Napf, ein Löffel und ein Becher. Wie das Schicksal und der Zufall es wollten, genauso verloren, verängstigt, entzogen der familiären, schützenden Obhut. Alle stammen aus den Städten, Städtchen und Dörfern in der Nähe von Łódź und in Kujawy. (Eine Landschaft im Zentralpolen - Anm. d.Ü.)

Schnell haben wir uns eingerichtet. Józia besetzte den Platz unten und ich oben. Uns stand die Hälfte des Schränkchens zur Verfügung, die andere Hälfte nutzten zwei Schwestern, xxxx. Es gab noch zwei andere Schwestern - xxxx. Mit ihren 13 Jahren war Kazia die jüngste unter uns, und trotzdem mußte sie wie die Erwachsenen arbeiten. Wir bekamen die wöchentlichen Zuteilungskarten für die Küche, wo wir täglich das Essen abholten. Und das war: Einmal täglich 250 Gramm schwarze glitschiges Brot, ein Stückchen Margarine und eine Kelle Suppe, meistens aus gelben Rüben; manchmal fand man in der Suppe ein Stück Pferdefleisch mit Fell oder andere Kadaverreste. Wir lernten mit unseren Zuteilungen so zu wirtschaften, daß wir die abgeholte Suppe gleich nach der Arbeit aßen, und das Brot für den nächsten Tag, zum Frühstück blieb. In der Fabrikkantine konnte man sich für 5 Pfennige einen Becher bitteren Malzkaffee kaufen. Ausnahmsweise gab es an manchen Sonntagen, anstatt Brot ein Viertel Baguettebrot und zu Mittag Gulasch mit ein paar kleinen Kartoffeln. Das Problem lag darin, daß sie oft verfault waren, und dann hungerten wir.

Hier in Rudow trat eine gewisse Stabilisierung ein. Endlich konnte jede von uns den Kontakt mit der Familie aufnehmen und die ständige Adresse angeben. Die eingetroffenen Briefe holten wir von der Wachstube ab, die sich am Fabrikeingang befand. Man stellte uns Lagerausweise aus und gab uns die Abzeichen mit dem Buchstaben „P“. Um fünf Uhr früh weckte uns der Wachmann, in dem er laut schrie und in die Tür trat. Das Wasser nahmen wir aus der Latrine, wo es an der Wand ein paar Wasserhähne gab. Dieses Wasser gebrauchten wir zum Trinken, für die Wäsche und zum Waschen, kurzum für alles. Dort war es kalt, so nutzten wir oft das laufende Wasser in der sauberen Fabriktoilette.

Die Arbeit begann um 6 Uhr, die Frühstückspause um 10 Uhr dauerte 15 Minuten und der Arbeitstag endete um 16 Uhr. Wir arbeiteten in unseren Kleidern, die sich sehr schnell abnutzten. Jetzt hatten wir vom Lager zur Fabrik nur 10 Minuten zu Fuß. In der Nähe gab es den Flugplatz Schönefeld. Wir waren im südöstlichen Teil Berlins.

Kurz nach dem Umzug organisierte man für uns das Bad. Mit einem Lastwagen fuhr man uns in eine Badeanstalt. Unsere Kleider wurden desinfiziert. Es strömte auf uns kaltes Wasser herunter, wir hatten weder Seife noch Handtücher. Gefroren und blau vor Kälte warteten wir ein paar Stunden auf die Kleider. Als man sie uns zurückgab, waren sie feucht vom heißen Dampf, verfärbt, zusammengelaufen und absolut ungeeignet zum Tragen.
Die tägliche Kohlen- oder Kokszuteilung holte jeweils die Diensthabende mit einer Schüssel von den Wachmännern ab. Diese Schüssel war unschätzbar, denn wir gebrauchten sie für verschiedenste Dinge. Zum Zünden nahmen wir Gummiabfälle, die wir heimlich aus der Fabrik brachten.

Es näherte sich Weihnachten. Die traurigste Weihnachten im Leben jeder von uns. Manche Mädchen bekamen die Oblate in den Briefumschlägen, als gab es Glückwünsche, Tränen und Gedanken an das Zuhause.

In unserem Lageralltag bemühten wir uns, uns an bestimmte ungeschriebene Regeln zu halten. Wir lernten uns kennen.

Die Bombardierungen begannen im Januar und wir wußten darüber nicht viel. Als die Sirenen heulten, wurde der Strom abgeschaltet und die Wachmänner trieben uns in den Luftschutzraum herunter. Das waren ausgehobene Gräben hinter den Baracken, mit befestigten Wänden und von oben mit Brettern zugedeckt und mit Erde zugeschüttet. Unter diesen schrecklichen, grabähnlichen Bedingungen mußten wir den Luftangriff abwarten, während in der Nähe die Bomben explodierten. In dem Raum war es stickig. Nach jeder Explosion fiel der Schutt herunter und wir waren vor Angst wie gelähmt. In der Dunkelheit ertönte nur der gesprochene Rosenkranz.

Eines Nachts im März hörten wir während eines Luftangriffes einen dumpfen, schweren Schlag. Nach dem Verlassen des Luftschutzraumes gingen die Lichter an und wir sahen inmitten des Lagers eine große Bombe, einen Blindgänger, liegen. Die Lagerwache umfriedete schnell diese Stelle und verbot uns, uns zu nähern. Am frühen Morgen kamen Pioniere und befreiten uns von der Explosionsgefahr. Seit dieser Zeit begann für uns eine neue Plage. Während des Alarms mußten wir in den Schutzkeller der Fabrik laufen, und das noch mit dem ganzen Gepäck. Die Wachmänner sorgten dafür, daß niemand in den Baracken blieb. Jene provisorischen Luftschutzräume im Lager wurden abgeschafft. Öfter passierte es, daß es, kaum daß wir aus dem Schutzkeller zurückkehrten und uns schlafen legten, nach einer kurzen Weile den nächsten Alarm gab und wir wieder in den Schutzkeller laufen mußten. Und um fünf Uhr früh das Aufstehen. Es folgte ein langer Tag mit schwerer Arbeit.

Ich bekam von Zuhause das erste Paket. Darin war ein Mantel, Schuhe, ein Kopfkissen, Kleider und andere Kleinigkeiten. Aber am wichtigsten waren die Lebensmittel. Normalerweise durfte man keine Lebensmittelpakete abschicken, nur Kleidung war erlaubt. Mit dem Paket ging man auf die Polizei, und als der Inhalt geprüft wurde, mußte man dort alles einpacken, das Paket wurde abgestempelt und erst dann konnte man es auf der Post abgeben. Der Gendarm, dank dessen Vorladung ich verschleppt wurde, wollte meinen Eltern irgendwie behilflich sein und nahm das Paket während der Abwesenheit seiner Kollegen und des Kommandanten in Empfang. Er bestempelte das bereits fertige Paket ohne reinzuschauen. Aber es gab nicht viele solche Gelegenheiten.

Józia arbeitete in der Kantinenküche, wo man nur Mittagessen für die Deutschen vorbereitete. Manchmal brachte sie verängstigt eine geschmuggelte Kartoffel mit, ab und zu gelang es ihr, sogar ein paar davon aufzulesen, dann kochten wir sie in einem geliehenen Topf auf dem Koksofen, den nicht alles eignete sich zum Kochen in der Schüssel. Den Topf liehen wir von den Ausgesiedelten aus Zamojszczyzna (eine Landschaft im Osten Polens - Anm. d.Ü.). die in der benachbarten Stube wohnten. Es waren Ehepaare, u.a. zwei Brüder Nowogródzkis mit ihren Ehefrauen. Die Frau des älteren Bruders war ganz verzweifelt, denn während der Aussiedlung wurde sie von ihrem Kind getrennt, und hier, im Lager wußte sie nichts von seinem Schicksal. Eine andere Frau aus dieser Stube gebar ein Baby, für das sie sorgte, anstatt in die Fabrik zur Arbeit zugehen. Während wir arbeiteten, war sie verpflichtet, in unserer Stube und in den anderen sauberzumachen.
Jeder mußte eine Beschäftigung haben. Sogar die alte Ukrainerin ging mit einem scharf gespitzten Stock umher und sammelte in einen Eimer Papiere und Abfälle auf dem Gelände.
In unserem Alltagsleben änderte sich nichts. Wir härteten ab und jede wurde schnell erwachsen. Es war eine harte, schwere und beschleunigte Lebensschule. Eine Überraschung war für uns der arbeitsfreie Tag am 1. Mai, dem Arbeiterfeiertag. Jedes Mädchen nutzte diesen Tag auf ihre Weise: für das Schreiben der Briefe (am besten schrieb man sitzend auf der Pritsche mit dem Koffer auf dem Schoß), andere machten Wäsche mit der rationierten Seife, die in der Hälfte aus Sand bestand. Nach einer solchen Wäsche blieben von der Wäsche nur Fetzen, die wir auf dem Zaun aus Stacheldraht trockneten.
Es war bereits Frühling, also konnte man sich mit dem kalten Wasser aus den Wasserhähnen in der Latrine waschen. Mit derselben sandigen Seife wuschen wir uns auch Haare.

Unsere Löhne waren lächerlich. Man zog uns für alles ab, d.h. für die Decken, Strohsäcke, für die Abzeichen mit dem Buchstaben “P“, für die Suppe aus gelben Rüben, für Versicherung und andere Leistungen. Im Lager gab es keine medizinische Versorgung. Als wir die Lohnauszahlung quittierten, bekamen wir ein paar Mark, die gerade für das Briefpapier, Briefmarken und manchmal die Fahrt mit der Straßen- oder der U-Bahn reichten.

An einem Mainnachmittag im Jahre 1943 trafen wir in unserem Lager eine Gruppe von jungen Polen aus dem Lager im Grünau; es war ein Lager ausschließlich für Männer, dort waren nur die Posener. Nach Berlin gelangten sie bereits im Januar 1940. Sie arbeiteten bei der Reichsbahn. Dies war für uns eine wertvolle Bekanntschaft. Zusammen stellten wir einen wunderbaren Freundeskreis dar, unsere gegenseitige Zuneigung beruhte auf der herzlichen, uneigennützigen und aufrichtigen jugendlichen Freundschaft. Die wunderbaren Jungs aus Grünau waren für uns eine Unterstützung, sie halfen uns und auf ihre Weise sorgten für uns. Sie kannten Berlin, und so konnten wir in ihrer Begleitung - wenn es gerade keine Luftangriffe gab - die noch lebendige Stadt kennenlernen. Auf den Straßen sah man, besonders an Sonntagen im Sommer, viele Jugendgruppen verschiedener Nationalitäten. Ihr Schicksal war dem unseren ähnlich. Wir Polen waren mit dem Buchstaben „P“ besonders gekennzeichnet. Die Franzosen unterstrichen ihre Nationalität, indem sie die Trikolore in Form einer Brosche trugen.
Seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, kamen die Jungs jeden Sonntag nachmittag zu Besuch, um zu sehen, wie wir leben, sowie um sich mit uns zu unterhalten. In unserer Gruppe waren Marian, Michał, Franek und Szymon, der Holländer. Die Mädchen bemühten sich, gepflegter auszusehen, brachten aus der Fabrik Schnipsel harten Papiers für Lockenwickel mit, wickelten ihr Haar. Aluśka schaffte sogar, zwei Nächte mit diesen „Kastanien“ zu schlafen, Mein Gott, wir waren alle so jung! Die alltägliche Wirklichkeit war hoffnungslos und düster, daher freuten wir uns so sehr auf die gemeinsamen Sonntagstreffen und auf das Ausgehen aus dem schrecklichen Lager.
Während der sommerlichen Hitze gab es in unserer Abteilung zusätzliche Qualen: die erhitzten Öfen bewirkten, daß die Temperatur in der Halle bis zu zig Grad anstieg. Es halfen weder die Ventilatoren noch das Begießen des Glasdachs mit dem Kaltwasser durch das technische Personal; wir quälten uns sehr ab. Zum Abkühlen hatten wir das Wasser in der Toilette.

Zu all den Plagen, die uns zu schaffen nachten, kamen noch die Wanzen hinzu. Im Sommer hatten sie in den Spalten unserer Pritschen gute Bedingungen zum Vermehren. So bekamen wir auf den Beinen und Armen quälende, juckende Schorfe, wir nach den Mückenstichen. Anfang Dezember gab es wieder das Bad, ähnlich wie früher und wohl in derselben Badeanstalt. Wieder strömte Kaltwasser herunter, dann warteten wir gefroren und blau vor Kälte in einem eisigen Raum auf unsere desinfizierten Kleider. Nach der Rückkehr ins Lager eine neue Überraschung: Desinfizierung der Baracken. Der scharfe, beißende Geruch des Gases bewirkte, daß die Augen tränten und es in dem Rachen brannte. Trotz der frostigen Kälte mußten wir diese Nacht bei geöffneten Fenstern schlafen. Und nach einer Weile wurden die Wanzen wieder lebendig und das Ganze fing von neuem an.

Das nächste Weihnachten rückte heran. Dieses Mal bereiteten wir gemeinsam das Abendmahl am Heiligen Abend vor. Die Mädchen stellten auf den Tisch, was jede nur hatte und mit den anderen teilen wollte. Auf unserem Tisch lag leider keine weiße Tischdecke, dafür war er aber blank gescheuert. Es gab die Oblate, wir wünschten uns gegenseitig viel Hoffnung und die baldige Rückkehr zu den Familien. Es ging nicht ohne Tränen und Erinnerungen.

Im Frühjahr, Ende März, wurden die Jungs aus Grünau, die bei der Reichsbahn arbeiteten, von einem tödlichen Unfall eines zusammen mit ihnen auf den Gleisen arbeitenden Jungen schwer erschüttert. Während des Märzschneegestöbers wurde er von einer zurückfahrenden Lokomotive angefahren. Das Begräbnis, das am 2. April 1944 auf einem der Berliner Friedhöfe stattfand, wurde von seinen Kommilitonen organisiert. Wir waren dort eine ziemlich große Gruppe von Polen, die wir von ihm Abschied nahmen und auf sein Grab Blumenkränze und Sträuße niederlegten. Er blieb dort für immer, aber wir hofften zu überleben. Jeder überstandene Tag war eine große Gabe, obgleich wir nicht vermochten, weitere Pläne zu machen als für den nächsten Tag. Und am nächsten Tag gab es wieder die Schufterei in den stinkenden, den Atem verschlagenden Gummidünsten.

Die deutschen Fabrikarbeiterinnen bekamen neue Schutzkittel, und die alten, ziemlich abgenutzten wurden uns Polinnen in unserer Halle zugeteilt. Die deutschen Arbeiterinnen hatten eine leichte Arbeit, bei der sie sitzen konnten. Sie sortierten und packten fertige Produkte ein. Nach dem Neujahr wurde unsere Halle mit der Dreischichtenarbeit zusätzlich geplagt. Ein Teil der Mädchen arbeitete tagsüber und die anderen nachmittags oder nachtsüber. Am schlimmsten war die Nachtschicht. Wir verloren die Kräfte. Die nächtlichen Alarme nahmen zu, und wir mußten obligatorisch in den Schutzkeller. Manchmal, als wir dahin liefen, fielen über unseren Köpfen die Lichtraketen wie Weihnachtsbäume herab. Das Gelände war hell beleuchtet. Die in der Nähe stationierte Flakbatterie beschoß die anfliegenden Flugzeuge. Das Pfeifen der fallenden Bomben rief bei uns Entsetzen hervor, so daß wir halbwahnsinnig den Fabrikschutzkeller erreichten. Wir mußten ständig auf der Hut sein. Jede von uns, als sie sich schlafen legte, ließ ihre Sachen ordentlich zusammengefaltet, so daß man sich schnell anziehen konnte. Die Luftangriffe tagsüber verschafften uns eine Verschnaufpause während der Arbeit.

Nach jedem Luftangriff sah man über der Stadt eine schwere Rauchwolke. Manchmal waren die Straßen mit Flugblättern überschüttet. Die Deutschen brachten diese Haufen weg, aber niemand wagte, ein Blatt von der Straße aufzuheben.

Interessant war für uns die Disziplin, die den aus der Stadt in die Fabrik zufahrenden deutschen Arbeiterinnen auferlegt wurde. Es kam vor, daß nach einem schweren Luftangriff ein paar Stunden lang keine Straßenbahnen oder die S-Bahn fuhren, aber als sie wieder im Betrieb waren, meldeten sich alle Arbeiterinnen in der Fabrik, sogar wenn nur eine Stunde bis zum Feierabend blieb.

Es war der heiße Sommer 1944. Unsere Jungs brachten uns hoffnungsvolle Nachrichten, die sie im Radio abhörten. Wir lebten in der Hoffnung, aber alltäglich verekelten uns die Wanzen das Leben bis zum Unerträglichen, so daß wir bei der Hitze unsere Strohsäcke heraustrugen und draußen, neben der Baracke schliefen, bis der erste Regen fiel. Die Wachmänner schenkten dem Ganzen keine Beachtung und duldeten diesen großen Campingplatz inmitten des Lagers.
Zusammen mit einem Brief bekam ich die, dank Beziehungen besorgten, Reiseverpflegungsmarken für Brot. In der nahen Bäckerei kaufte ich nur die Hälfte der Zuteilung auf, denn die Verkäuferin hatte Angst, mir mehr zu verkaufen. Und wieder kamen die Jungs zu Hilfe. Sie kauften das Brot in der Stadt, auch für Jadzia und Zosia.

Die Jungs berichteten uns vom Warschauer Aufstand. Als ich eines Tages die tägliche Portion der hergestellten Handschuhe noch oben trug, fragte mich eine Deutsche zunächst, warum ich solche Schorfe auf den Händen und Beinen habe (das waren die Wanzen) und ob ich weiß, was in Warschau passierte. Ich wußte es.

Im Herbst erschienen im Lager neue Menschen, sie sagten, sie seien aus Warschau. Ende November fuhren wir wieder in die Badeanstalt, um erneut zwangsweise das eisige Bad unter der Dusche zunehmen, wie üblich ohne Handtücher (denn wir kamen direkt von der Arbeit). Als wir gefroren, erschöpft in den anderen Raum gingen, um uns endlich anzuziehen, wurde jede von uns von zwei uniformierten jungen Deutschen angehalten, die uns sehr aufmerksam betrachteten. Wir waren darüber entsetzt, fühlten uns erniedrigt und schämten uns sehr wegen unserer Nacktheit. Beim nächsten Treffen erzählten uns die Jungs, daß ihnen Ähnliches widerfuhr, nur daß sie von jungen deutschen Frauen „untersucht“ wurden. Nie erfuhren wir, wozu das dienen sollte.

In den Baracken gab es auch eine Desinfizierung. Wieder verschlug uns der beißende Geruch des Gases den Atem. Trotz der frostigen Kälte schliefen wir wieder bei geöffneten Fenstern.

Es ist wieder Dezember, die Feiertage rücken näher. Von den Familien kommen Pakete und Briefe. Marian, ein wunderbarer Freund, brachte uns einen Weihnachtsbaum, grün, duftend und schön. Für ein solches Geschenk waren wir ihm sehr, sehr dankbar. Wir schmückten diesen unseren „Glücksbaum“ mit Schleifchen und Bändern, ein Mädchen machte aus dem Briefpapier ein paar Sternchen, und unser Weihnachtsbaum war wirklich wunderschön. Wir freuten uns wir Kinder. Marian wünschte uns alles Gute, auch im Namen seiner Kommilitonen, und ging selber in sein Lager zurück. Wir trafen uns mit der ganzen Gruppe am nächsten Tag. Das Abendmahl, das wir gemeinsam verbrachten, war ärmlich und traurig.

Das Neujahr versprach neue wichtige und entscheidende Änderungen. Bereits Anfang Januar 1945 war der Briefwechsel mit unseren Familien abgebrochen. Wir wurden von jeglichen Nachrichten von unseren Nächsten abgeschnitten.

Ende Januar, Anfang Februar stellten sich wegen den fehlenden Rohstoffen wiederholt Unterbrechungen in den Fabrikhallen ein. Wir putzten unsere Arbeitsplätze und verschiedene Gegenstände blank. Ab Januar wurden unsere Brotrationen auf 200 Gramm reduziert.

Der Winter war schwer und frostig, und die Zuteilung von Kohle beschränkt. Langsam griffen wir zu unseren Reserven: Es waren die eng gelegten schmalen Bretter unter den Strohsäcken, die genau in den Ofen hineinpaßten, so daß wir sie nicht zerkleinern mußten. Übrigens gab es nichts, womit wir das hätten tun können. Immer noch brachten wir heimlich aus der Fabrik Gummiabfälle mit.

Es gab immer öfter Störungen im Arbeitsrhytmus, aufgrund der Luftangriffe und des Fehlens vom Kautschuk. Im Februar wurde aus unserer und der „Ballonhalle“ eine große Mädchengruppe zusammengestellt. Unter der Bewachung eines pensionierten Fabrikangestellten fuhren wir in das Stadtzentrum zum Enttrümmern. Das machten wir aber nicht, denn es war Frost uns alles war mit Schnee bedeckt. Mit bloßen Händen konnte man keinen einzigen Ziegelstein heben, außerdem froren wir. Allmählich verschwanden wir aus der Sicht unseres Bewachers; wir versuchten, uns an der U-Bahn-Station oder in den Räumen des riesengroßen Kaufhauses am Alexanderplatz aufzuwärmen, kurzum dort, wo man in der Menschenmenge verschwinden konnte. Gegen 16 Uhr kehrten wir ins Lager zurück und der ältere Herr wollte oder konnte nicht, mit uns fertig werden.
Eine Weile gehen wir wieder in die Fabrik. Abermals putzen wir alles blank. Ein neuer Bewacher fährt mit uns wieder zum Enttrümmern. Wie das letzte Mal versuchen wir, uns zu verdrücken. Aber diesmal werden wir bestraft: die Lebensmittelkarten für die Küche bekommen wir erst nach dem beendeten Arbeitstag, nachdem wir, zusammen mit dem Bewacher, als geschlossene Gruppe zurückkehren.

Die Luftangriffe nehmen am Tag und in der Nacht noch mehr zu. Das Heulen der Sirenen weckt immer größeres Entsetzen. Während einer Bombardierung wurde ein Flügel der Fabrikgebäude ausgebombt, es brechen Brände von den Brandbomben aus. Als wir in den Schutzkeller laufen, müssen wir am brennenden Asphalt vorbei. Es kommt die sichtbare Blockade Berlins.

Das Essen ist immer schlechter, die Rationen geradezu zum Verhungern, die Suppe immer wäßriger. Einmal, als ich zu den Baracken ging, sah ich, wie die italienischen Kriegsgefangenen von einem Lastwagen die Kohlköpfe ausluden und sie ins Küchenlager brachten. Verstohlen steckten sie die abgefallenen halbverfaulten Blätter in die Tasche ein. Sie hatten es auch schwer und litten unter Hunger wie wir alle.

Im März trieb man Hunderte von Menschen aus Fabriken und verschiedenen Betrieben zusammen, damit sie die Schutzgräben gegen Panzer ausheben. Für uns war das eine mörderische Arbeit. Diese Schutzgräben waren 2 Meter tief und 4 Meter breit. Diese Arbeiten gingen unter Militärbewachung vonstatten. Es war kalt und es fiel Schnee mit Regen, und wir gruben ohne geeignete Bekleidung in der glitschigen, wasserunterlaufenen Erde. Am Boden sammelte sich das Wasser. Während der Arbeit machten wir uns Gedanken, woher, aus welchen Vorratslagern diese unzähligen Schaufeln für die Arbeitenden kamen. Zum Schluß der Arbeit gaben wir sie den Deutschen zurück, sie warfen sie, schmutzig und mit dem Matsch beklebt, auf die Lastwagen hin. Am nächsten Morgen bekamen wir sie wieder sauber und gründlich abgewaschen in die Hände.

Zu diesen Erdarbeiten gingen wir alle, außer Józia und Irena, die immer noch in der Fabrikküche aushalfen. Irena wurde noch im Sommer aus gesundheitlichen Gründen von der Halle versetzt. Sie hatte fast chronische Bindehautentzündung; dann ließen die Beschwerden nach. Da sie im Gebäude arbeitete, fror sie nicht wie wir draußen, so gab sie mir ihre Dreßhose ab. Mir war es wärmer und bequem. Aber unsere Qualen hatten kein Ende. Gefroren und klitschnaß kehrten wir in unsere Baracken zurück, unsere Schuhe fielen in diesem Matsch auseinander. Und wir hatten gar keine Möglichkeit, uns aufzuwärmen und unsere Sachen zu trocknen. Wir hatten keine Zuteilung vom Brennstoff mehr, obwohl eine ganze Kohlenhalde neben der Baracke der Wachmänner lag. Eines Tages versuchten wir. Irena, Czesia und ich, bei der Dämmerung mit der sprichwörtlichen Angst im Nacken, ein wenig Kohle mit den Schüsseln zu holen, ohne die Wachmänner zu fragen. Es gelang uns! Wir holten drei gehäufte Schüsseln, obgleich wir uns bis zum Ende nicht sicher waren, ob die Wachmänner uns tatsächlich nicht sahen, oder ob sie es uns schweigend zubilligten. Die Bretter unter den Strohsäcken konnten wir nicht mehr herausziehen, denn sie bauschten sich gefährlich tief nach unten und man konnte befürchten, der Kommilitonin auf den Kopf herunter zu fallen. Wir hatten immer weniger Kraft, waren von der schweren Arbeit ausgezehrt, unterernährt. Eines Tages gab die Küche Suppe aus getrockneten Kartoffelblättchen aus. Es war wohl Schweinefutter, aber wir hatten keine Wahl, wir mußten den ekelhaften bläulichen Brei, in dem die Schalen noch schwammen, aufessen. Dieses Gericht wiederholte sich noch ein paar Male.

Zu den Feldarbeiten gingen wir nicht mehr. Erneut arbeiten wir in der Fabrik, obgleich es hier nicht viel zu tun gibt. Im April beginnen die teppichartigen Bombardierungen. In nicht allzu großer Höhe fliegen ganze Staffeln von Flugzeugen und bombardieren systematisch die Stadt. Während eines Flugangriffs wurden weitere Fabrikgebäude zerstört. Holländer versuchen den Brand zu löschen und den Rest der Gebäude zu schützen.

Eines sonnigen Apriltages fuhren wir mit einer großen Gruppe und dem Bewacher direkt von der Fabrik in die Stadt. Mit Erstaunen stellen wir fest, daß wir auf einem großen und schönen Charlottenburger Friedhof gelangen. Auf den sorgfältig gepflegten Wegen stehen Dutzende von Särgen, die auf das Begräbnis warten; es sind die Opfer der Letzten Angriffe. Das Friedhofspersonal zeigt uns die Quartiere, und wir werden gezwungen, die Gräber auszuheben. Wir gaben uns nicht sehr viel Mühe, obgleich der uns bewachende Deutsche uns zur Arbeit antrieb. Wir hatten einfach keine Kraft mehr. Und doch quälte man uns die ganze Woche lang mit solcher „schwarzen“ Arbeit.

Es bricht Chaos und Panik unter den Deutschen aus. Seit ein paar Tagen fuhren in eile, Tag und Nacht, unzählige Kolonnen von Militärwagen und anderen schweren Fahrzeugen vorbei. Man hört das stete Brummen der Motoren. Aus den Straßen sieht man ältere Männer und ganz kleine Jungen, die zur Verteidigung der Stadt bereit sind. Nach dem panikartigen Rückzug der deutschen Truppen wird es plötzlich still. Es herrscht solche merkwürdige Stille wie vor dem Sturm, die den ganzen Tag währt. Und dann folgte der Artilleriebeschuß. Gegen Abend kommen die Wachmänner und entscheiden, daß das Lager evakuiert wird. Wir sollen sofort zum Aufbrechen fertig sein. Unsere Bekannten aus Zamojszczyzna bleiben in ihren Baracken und raten uns, ebenfalls zu bleiben. In unserer Stube bleiben wir zu sechst. Der Rest der Mädchen gehorcht den Wachmännern und verläßt das Lager. Am nächsten Morgen kehren - total erschöpft - zunächst Irena, Aluśka und Wiesia, und dann die anderen, ohne Wachmänner zurück. Aus dem, was sie erzählen, stellt sich heraus, daß sie sich in Richtung Westen bewegten. Bald befanden sich alle in einer Falle, denn sie gingen in Richtung Front. Angesichts dessen mußten sie zurück ins Lager.

Es ist etwas Seltsames passiert. Es gibt den uniformierten Lagerführer Zilke nicht, keine Wachmänner; der Koch, Franzose, ist auch nicht da und die Küche bleibt geschlossen und gibt kein Essen aus. Wir sind hungrig. Jemand kam mit der Nachricht, daß die Männer die Schlösser zum Lagermagazin mit Lebensmitteln aufbrechen, und daß man dort etwas zum Essen finden kann. Im Magazin gab es Säcke mit Grieß und Zucker. Es waren Delikatessen. Während unseres ganzen Aufenthalts im Lager bekamen wir nie ein Gramm Zucker. Jede von uns raffte eine Portion von diesen Leckereien zusammen, und wir kehrten in die Baracken zurück, um uns Mittagessen zu kochen. Vorläufig verlassen wir das Lager nicht, denn die Schießerei dauert an. Unaufhaltsam und gewaltsam nähert sich die Front.

Es kommen die Russen. Am 26. April 1945 sind wir befreit von der Sklaverei, die uns das 3. Reich bereitete. Über unserer Baracke erscheint und flattert die weiß-rote Fahne. Dies waren unsere Bekannten aus Zamojszczyzna, die unter ihren Sachen eine noch aus Polen mitgebrachte Fahne aufbewahrten. Dank gilt ihrem lebendigen Patriotismus, auch der Freude, die sie uns bereiteten! Gegen Abend kommen die ersten russischen Soldaten ins Lager. Mit Neugier betrachten wir die schlitzäugigen Jungs. Aber die größte Überraschung für uns sind die Soldaten - Polen. Sie unterhalten sich gern mit uns und fragen, wie wir nach Hause fahren wollen. Sie selber behaupten, es werde einer schwere Reise sein, aber sie wollen uns helfen. Nach einer Stunde kommen sie wieder und wir bekommen drei schöne Fahrräder. Mir fiel ein elegantes kirschfarbenes Damenrad zu. Als sie sich von uns verabschiedeten, warnten sie uns vor angetrunkenen Soldaten und rieten uns, noch diese eine Nacht im Lager zu verbringen.

Am Morgen kamen die Jungs aus Grünau zu uns. Wir sind fertig zum Aufbrechen. Noch die letzten Umarmungen, Küsse, Austausch der Adressen mit Kommilitoninnen, und wir verlassen das Lager. Auf den Straßen überwiegt Weiß. An allen übriggebliebenen Häusern hängen weiße Fahnen herunter. Ein unvergeßlicher Anblick. Berlin bleibt hinter unseren Rücken.
Glinik, den 4.11.1997


Sehr geehrte Frau Wenzel,

ich danke Ihnen für Ihren netten Brief und Gratulationen. Wie versprochen, schicke ich Ihnen so schnell wie möglich die Kopie meiner Erinnerungen, auf die Sie warten und die für Sie vielleicht interessant sein werden. Abgesehen davon: schreiben Sie bitte und fragen Sie, ich antworte gerne auf jeden Brief. Meine Einladung nach Glinik gilt nach wie vor.
Was den telefonischen Kontakt betrifft: ich gebe Ihnen die Telefonnummer meiner sympathischen Nachbarin: xxxx 095/7513134. Frau Helena wird mich immer benachrichtigen oder ein Treffen mit Ihnen ausmachen.
Ich wünsche Ihnen viel Befriedigung bei Ihrer schweren Arbeit und verbleibe
hochachtungsvoll

xxxx

  • 1 von 8 Seiten
  • 2 von 8 Seiten
  • 3 von 8 Seiten
  • 4 von 8 Seiten
  • 5 von 8 Seiten
  • 6 von 8 Seiten
  • 7 von 8 Seiten
  • 8 von 8 Seiten
  • Informationen zum Bild

    Arbeitskarte der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Kazimiera K. aus den "Eingegliederten Ostgebieten"; Fa. Daubitz; ausgestellt am 23.11.1942

    1 von 1 Dokumenten
DZSW 1365
Kurzbeschreibung

In einem sehr ausführlichen Brief vom beschreibt Kazimiera K. die Zeit ihrer Zwangsarbeit, die sie für das Gummiwerk Fr. M. Daubitz leistete. Sie geht detailliert auf die Arbeitsverhältnisse, die Lebensumstände und die knappe Freizeitgestaltung ein.

 

Herkunftsland: Polen

Geburtsjahr: 1924

Angaben zur Zwangsarbeit
Weitere Objekte

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

Arbeitskarte der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Kazimiera K. aus den "Eingegliederten Ostgebieten"; Fa. Daubitz; ausgestellt am 23.11.1942© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt