Abschrift: xxxx

Sehr geehrte Frau Wenzel,
seit Kriegsende sind bereits über 50 Jahren vergangen und vieles ist in Vergessenheit geraten. Doch ich bemühe mich, auf Ihren Aufruf zu antworten, soweit es mir mein Gedächtnis erlaubt.
Ich bin xxxx geb. am 1.1.1925 in Goślub bei Łódź; habe mittlere Ausbildung. Als ich nach Berlin ging, war ich 19 Jahre alt.
In Berlin arbeitete ich knapp über 10 Monate; wenn ich mich recht erinnere, vom Ende Juni oder Anfang Juli 1944. Ich arbeitete im Betrieb, der Askania-Werke Aktiengesellschaft hieß, in Berlin-Friedenau, Kaiser Allee 86/89. In diesem Betrieb wurden Flugzeugteile hergestellt. Das weiß ich noch, wenn ich an die Tätigkeiten meiner Kolleginnen zurückdenke. Ich arbeitete meistens bei der Herstellung von Nieten, die aus Draht gemacht wurden. Manchmal arbeitete ich auch im ersten Stock am Fließband, an dem Messinstrumente, wie z.B. Kompasse, zusammengebaut wurden. An die Namen von Meistern und Leitern kann ich mich nicht mehr erinnern.
Unterkunft: Wir wohnten in einstöckigen Holzbaracken, in Stuben mit jeweils 8 Etagenbetten, d.h. wir wohnten dort zu sechzehnt.
Entlohnung: Genau weiß ich nicht mehr, wieviel wir wöchentlich bekamen, aber es war kein großer Verdienst. Übrigens, für meine Kolleginnen, die an anderen Stellen arbeiteten, gab es andere Löhne.
Arbeitszeit: Wenn ich mich recht erinnere, arbeiteten wir wohl 10 Stunden täglich; sonntags hatten wir gewöhnlich frei.
Ernährung: Einmal in der Woche bekamen wir trockenen Proviant, d.h.: einen Brotlaib, ein Stückchen Margarine, ein wenig Marmelade; darüber hinaus gab es eine Kantine, wo wir zu Mittag aßen. Alles in allem war die Ernährung unzureichend, und meistens hungerten wir.
Die medizinische Versorgung: Es gab eine Krankenstube, wo man sich zur Not helfen lassen konnte.
Freizeit: Nach der Arbeit durfte man aus dem Lager, in dem wir wohnten, in die Stadt ausgehen, aber wir waren verpflichtet, den angenähten Buchstaben „P“ zu tragen, woran wir uns übrigens nicht immer streng hielten. Darüber hinaus saß man gewöhnlich in der kalten Stube, da es mit dem Brennstoff schlecht bestellt war. Machmal trieben wir etwas auf und so heizte man in dem Ofen. Aber es waren seltene Fälle. Bei der Arbeit hatten wir es dafür warm.
Das religiöse Leben: Keines. Es gab keine Kirche für die Polen, und mit dem Buchstaben „P“ durften wir an der Messe in der Kirche für die Deutschen nicht teilnehmen.
Kontakte mit den Familien: Wir durften Briefe nach Hause schreiben und Briefe bekommen, aber der ganze Briefwechsel unterlag einer strengen Zensur.
Kontakte mit der deutschen Bevölkerung: Nur im Betrieb, mit den Meistern oder den Leitern. Das Verhalten war korrekt. Man kann nicht behaupten, sie hätten uns schikaniert, weil wir Polen waren.
Im Betrieb war es auffallend sauber, bei vielen Arbeiten mußten wir weiße, saubere Kittel tragen; dies erforderte die präzise Arbeit mit den Teilen von Meßgeräten.
Repressalien: Ich persönlich erfuhr während meines ganzen Aufenthaltes keine, aber meine nächste Freundin (die in der Mitte auf dem beigefügten Foto, wo wir zu dritt vor dem Denkmal stehen) wurde einmal zur Gestapo vorgeladen, die ihren Sitz, von unserem Wohnort aus gesehen, an dem anderen Ende der Stadt hatte. Sie wurde ein paar Male ins Gesicht geschlagen von dem Gestapo-Beamten, der sie verhörte. Der Grund war, dass sie nicht gestehen wollte, sie habe angeblich ihre Schwester besucht, worum sie in einem Brief von der letzteren gebeten wurde. Ihre Schwester arbeitete in Cottbus, also nicht so weit von Berlin. Jenen Brief bekam meine Freundin nicht zu sehen. Die Zensur übergab ihn der Gestapo. Und so bestrafte man sie für etwas, obwohl sie ganz unschuldig war. Denn was sollte sie schon gestehen, wenn sie nicht bei der Schwester war? Als der Meister (selbstverständlich ein Deutscher) davon erfuhr, machte er ihr Vorwürfe, sie hätte ihm alles sagen sollen und er hätte das Ganze erledigt, wie er sagte. Als sie in die Baracke zurückkam, war ihr Gesicht angeschwollen, aber sie selber war letztendlich ganz glücklich darüber, dass die Sache damit zu Ende war.
Das Bild Berlins: Während zehn Monate unseres Aufenthaltes in dieser Stadt, wurde Berlin sehr oft, tags- und nachtsüber bombardiert. Es nahte doch das Kriegsende. Anstatt bei der Arbeit hielten wir uns sehr oft in dem Luftschutzkeller auf. Auch in der Nacht wurden wir in den Baracken aus dem Schlaf gerissen und flüchteten in den Luftschutzkeller.
Unmittelbar vor der Befreiung: Etwa zwei Wochen vor dem Einmarsch der Russen herrschte Chaos, der Betrieb war nicht mehr intakt, die Lebensmittelrationen bekamen wir nicht mehr, die Kantine war zu. Jeder musste sich selber anstrengen, um irgendwie zu überleben. Uns halfen damals sehr die Jungs, fast jede von uns hatte jemanden. Sie trieben irgendwoher Mehl, Kartoffeln, Graupen auf, und man kochte etwas daraus.
Als die Russen einmarschierten, konnte man auf keine Hilfe ihrerseits zählen, es waren eher sie, die die jüngeren Mädchen ausnutzen wollten. Wir flüchteten aus dem Lager, jede auf eigene Faust. Einen Platz im Zug zu erobern, war unmöglich: zu viele Reisende, zu wenig Waggons. Ich fuhr nach Hause auf dem Dach eines Waggons. Gut dass der Zug nicht zu schnell fuhr, wer weiß, was mit uns passiert wäre.
Nach der Befreiung: Nach der fünfjährigen deutschen Besatzung begann nun die sowjetische, die 45 Jahre dauern sollte. Die schlimmste Zeit waren die Jahre 1945-1956. Unser Sicherheitsamt, eine verbrecherische Organisation, ähnlich der deutschen Gestapo, setzte unserer Gesellschaft schlimm zu. Tausende von unschuldigen Menschen kamen von den Händen dieser Barbaren um, und was noch schlimmer war, es waren die Polen, oft auch die Juden, die den sowjetischen Besatzern dienten.
Damit möchte ich abschließen. Ich lege drei Fotos bei. Auf dem ersten bin ich, auf dem anderen stehen wir zu dritt vor dem Denkmal, ich bin die erste von rechts, die Frau in der Mitte ist xxxx, d.h. die, die Prügel bei der Gestapo bekam. Auf dem dritten Foto sieht man eine Gruppe Frauen aus unserer Stube und zwei zufällige Bekannte.
Das Foto, auf dem wir zu dritt sind, war ein wenig riskant: Wir sind in der Stadt, keine von uns hat das Abzeichen „P“ angeheftet oder angenäht. Hätte man uns erwischt, so hätten wir das Gleiche wie meine Freundin seitens der Gestapo erfahren, und vielleicht sogar Schlimmeres. Auf der Rückseite des Gruppenfotos sieht man den Stempel des Fotobetriebes, dessen Leistungen wir in Anspruch nahmen, der sich in derselben Straße befand, wie die Fabrik, in der wir arbeiteten.

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DZSW 1413
Kurzbeschreibung

Mit 19 Jahren war Zenona S. als Zwangsarbeiterin in den Askania Werken bei der Verarbeitung von Metallteilen tätig. In ihrem Brief beschreibt sie die schlechten Lebensverhältnisse, da sie häufig unter Hunger, mangelnder medizinischer Versorgung und Diskriminierung litt.

 

Herkunftsland: Polen

Geburtsjahr: 1925

Angaben zur Zwangsarbeit

© Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit / Slg. Berliner Geschichtswerkstatt

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